Sonntag, 2. März 2014

Melitta als Symptom, Symbol und Innovation

In der Entwicklungsgeschichte der Kaffeemaschinen ist Melitta ein Fall, der es verdient, hervor gehoben zu werden – wenn auch nicht als Ausnahme, sondern als Spitzenbeispiel für unser Thema, das wir langfristig verfolgen: Der Beitrag eines Feuilletons zum Diskurs über Innovationen kann nur darin bestehen, das Zusammenspiel kultureller und technischer Faktoren für die Entwicklung und Marktakzeptanz von Produkten zu untersuchen, um darin allgemeine Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren. In unserem konkreten Fall lautet die Frage: Was macht Melitta seit mehr als 100 Jahren so erfolgreich?



Kaum jemand leugnet heute noch, dass kultureller Wandel und kulturelle Werte auf die Entstehung wie auf den Erfolg technischer Innovationen großen Einfluss haben. Dennoch gehört es zu unserer kulturellen Tradition, technische Rationalität und kulturelle Entwicklungslogik getrennt zu betrachten. Zwei Diskurse laufen parallel, Brückenschläge sind selten und dann oftmals naiver als die veranschlagte Kompetenz im je eigenen Fach. Technologie und Kulturwissenschaften sind Parallel-Universen. Ihre Diskurse sind kaum anschlussfähig, weil die dahinter liegenden Modelle und deren Grundbegriffe, vor allem aber der „Rationalitätstyp“ unvermittelt bleiben. Besonders die technische Rationalität neigt zur Selbstisolierung, nicht selten zur Selbstbegründung. Was nicht materiell und realistisch, mathematisierbar und kausallogisch oder gar in einem linear funktionalistischen Mittel-Zweck-Modell nicht denkbar ist, wird als „Randbedingung“ externalisiert, oft sogar als „irrational“ oder „soft factor“ eingestuft. In einer entwickelten Konsumgesellschaft jedoch ist das Modell des „homo rationale“ für die Nachfrage als Randphänomen einzustufen, während die „weichen Faktoren“ dominieren und spätestens dann ihre Weichheit verlieren, wenn die Verkaufsergebnisse in harten Zahlen auf dem Tische liegen.










Die Entstehungsgeschichte der Melitta-Filtertüte wird stets funktionalistisch erzählt. Hausfrau Melitta Bentz fühlte sich vor etwas mehr als 100 Jahren beim Kaffeekränzchen gestört von braunen Krümeln, die den damals üblichen Sieben durchs Netz gingen und sich statt dessen zwischen den Zähnen verfingen. Sie erkannte darin ein Problem und sann nach einer technischen Lösung. Durchlöcherte mit dem Nagel eine alte Konservenbüchse und entnahm dem Schulheft ihres Sprösslings ein Löschblatt, um damit den Kaffeesatz feinmaschiger von der Brühe zu scheiden. So ward die Filtertüte® erfunden! Der Rest ist Geschichte, das Ergebnis ein großer Konzern.

Doch wenn ein Funktionsvorteil das Erfolgsgeheimnis von Melitta ist, bleiben zwei Fragen rätselhaft: Warum gilt Melitta-Kaffee als Inbegriff der Kultur Deutschlands? Und warum hält er in seiner Heimat trotz neuer Konkurrenz durch Espresso und Nespresso noch 70% Marktanteil, obwohl ihm nachgesagt wird, von „lauwarmem geschmacklosem Abwaschwasser“ nicht in hinreichendem Maße unterscheidbar zu sein?

Kaffee-Schlacht zwischen Nord und Süd

Die lokalkulturelle Aufgeladenheit des Filterkaffees wurde mir an einer Beobachtung deutlich, die ich in Italien im Schaufenster einer Espresso-Bar machen konnte. Um deutsche Touristen anzulocken, versprach ein Plakat „echte Deutsch-Káffe!“. Darunter hatte der Wirt zur Illustration etwas gebastelt, was den für amerikanische Longdrinks üblichen Papier-Sonnen-Schirmchen nachempfunden war: Aus einer auffallend großen Tasse ragte eine dünne hölzerne Stange, auf der die Mini-Version einer Filtertüte angebracht war, wie ein umgekehrter Sonnenschirm. Diese Standarte sollte die Authentizität der in den Süden transferierten Deutschen Kaffee-Filtrier-Kultur verkünden und gleichsam evident werden lassen.

Die Außenperspektive vom Süden her auf die nördliche protestantische Kultur hebt jenen Schritt des Kaffeemachens als Symbol hervor und gleichsam auf die Fahne, der in der Melitta Technik die zentrale Rolle spielt: das Trennen vom Sud. Der Vorzeige-Filter bietet sich an als Nationalsymbol, weil er für die klischeehaften Zuschreibungen des „Typisch Deutschen“ bestens geeignet ist. Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Regelbefolgung, knausrige Geldorientierung, Pingeligkeit, moralistische Strenge gegen sich selbst wie gegen andere, Zwanghaftigkeit und vor allem Reinlichkeit, die ganze Palette an Vorurteilen, die im Rest der Welt über die Deutschen kursieren, lassen sich im Symbol des Filter-Fähnchens verdichten. Es hält dem Deutschen Reinheitsgebot im schmutzigen Süden die Stange.

Katholischer versus Protestantischer Kaffee

Religionssoziologisch relevant ist für die Herausbildung dieses Sets von Typizitäten der Unterschied zwischen der katholischen Kultur des Südens, in der Sünden über den Weg der Beichte verzeihbar sind, und der protestantischen Kultur, die Moral an Vernunft koppelt und damit nicht nur Verzeihung, sondern auch jede Relativierung einer Bewertung unmöglich macht. Im Norden wird alles ernst genommen, es werden scharfe Trennlinien gezogen, Richtig und Falsch werden streng unterschieden.


Zitat aus dem Blog breigh.com

Tiefenpsychologisch betrachtet, ist das genannte Set von Zuschreibungen dem zuzuordnen, was „der anale Charakter“ genannt wird: „Der „anale Charakter“ ist penibel, ordnungsliebend, zwanghaft, sparsam, starrsinnig usw.“ (Wikipedia). Der Zusammenhang dieser Eigenschaften liegt in der Entwicklungsgeschichte des Kleinkinds, das in der Phase der Reinlichkeitserziehung auf konfliktreiche Weise lernt, am eigenen Körper die Differenz von Gut und Böse mit Sauberkeit und Schmutz, hergeben und zurückhalten, gehenlassen und kontrollieren zu verkoppeln. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die kulturgeographische Verteilung der Präferenz für diverse Bauprinzipien von Toiletten. Während man sich in südlichen Ländern Europas mit dem simplen Verschwinden der Dejekte begnügt, muss im Norden der Vorgang des Verschwindens eigens noch einmal inszeniert und vor Augen geführt werden, indem die Dejekte gleichsam auf dem Präsentierteller rituell betrachtet werden, um ihrem dramatischen Abgang gebührenden Respekt zu zollen.

Technikbedienung als Geste

Jeder technische Apparat zwingt den Menschen, der ihn bedient, zu bestimmten Bewegungen und Handlungen. Bei der Hebel-Espressomaschine steht die Lust an einer Geste maskuliner Effektivität im Vordergrund. Wo beim Automaten ein mechanischer Druckknopf durch einen Touchscreen (ohne Funktionsvorteil) ersetzt wird, genießt man am Zwang zur feinmechanischeren Fingerbewegung den metaphorischen Zusammenhang von Körperentlastung, Informatisierung, Verfeinerung, Affinität zum Digitalen und die modische Nähe zum iPhone.












Die Melitta-Technik exponiert aus dem gesamten Zubereitungsprozess die klarere und deutlichere Scheidung des guten Getränks vom nassen braunen Häufchen des Kaffeesatzes, der sich im braun gewordenen Filter gesammelt hat. Betrachtet man diesen Vorgang nicht technisch, sondern auf der Ebene einer Inszenierung von Wahrnehmungen und Gesten, so eignet er sich vorzüglich dazu, den schlechten Rest mit spitzen Fingern aus dem Trichter zu fischen und in einer verächtlichen rituellen Bewegung in den Mülleimer zu werfen. Die Abtrennung des Sauberen vom Schmutzigen in Tateinheit mit der Scheidung des Guten vom Bösen ist im schuldgeplagten Protestantismus mit seiner niedrigen Peinlichkeitsschwelle und seiner geringen Schmutz- und Fehlertoleranz ein Anliegen, das sich in überschüssigen Szenifizierungen entäußern muss – als das, was man in psychologischer Perspektive ein Symptom, in kulturtheoretischer Hinsicht ein Symbol nennt.








So fügt es sich gut, dass man die übergroße Kaffeetasse, die für den Filterkaffee-Kult vorgesehen ist, in Deutschland als „Pott“ bezeichnet, mit jenem Wort also, das anspielungsreich zugleich den Nachttopf meint. Von hier aus wird erst verständlich, warum der schlechte Geschmack der dünnen Brühe als Motiv für einen Rückgang der Nachfrage nach Melitta nicht in Frage kommt: Es ist einer der Kernwerte der protestantischen Kultur der Deutschen, dass man auf Wohlgeschmack, kulinarische Finesse, sensorisch-ästhetische Ansprüche und luxuriöse Sinnlichkeiten ohnehin besser verzichten solle, zugunsten vernünftiger und moralischer Ziele. Dies ist die wesentliche Entgegensetzung der nationalen Mythologie Deutschlands sowohl gegenüber dem „dekadent luxuriösen“ Frankreich, als auch gegenüber dem zur Ästhetisierung, Vieldeutigkeit, Doppelmoral, Inszenierung und sinnlichen Genüsslichkeit neigenden Italien.









Das Filter-Fähnchen im Schaufenster der italienischen Bar ist daher nicht nur eine werbende Einladung, es inszeniert unterschwellig auch ein Stück Kulturkampf und Verspottung gegenüber den kulturlosen Gästen aus dem Norden. Auf diese Zurücksetzung ist der massive Import italienischer Espresso-Kultur seit den 80er Jahren die Antwort jener neuen deutschen Kulturformation, die man damals als „Toskana-Fraktion“ bezeichnete und die gegenwärtig im Biotop der „Latte-Macchiato-Muttis“ vom Prenzlauer Berg beerbt wurde.


Am schlechten Geschmack lässt sich beweisen und der Beweis genießen, ein guter Mensch zu sein. Wie anders wäre erklärbar, dass man in jeder größeren Stadt der Welt italienisch, französisch, türkisch, griechisch, russisch, thailändisch, vietnamesisch, japanisch, mexikanisch, amerikanisch oder auch südkreolisch essen gehen kann, während die „Deutsche Küche“ unbekannt ist? Doch die Verpönung der Geschmacksdimension geht noch weiter. Ein Reisender, welcher in Deutschland wie in jedem anderen Land seine Gastgeber darum bittet, die lokale Küche kennenlernen zu dürfen und in ein Deutsches Restaurant zu gehen, wird auf ahnungslose und erstaunte Gesichter treffen. „Ja, so was gibt es schon irgend wo, hab ich mal gehört, kenne ich aber nicht näher…“ Somit ist die deutsche Bevölkerung die weltweit einzige, der ihre eigene Küche unbekannt ist, während sie selbst an ihrer Vorliebe für schlechten Kaffee von außen jederzeit eindeutig identifizierbar ist.


Dass es eine deutsche Hausfrau war, deren Wunsch an den Kaffee nicht etwa auf eine Verbesserung des Geschmacks, sondern auf eine inszenierte Säuberung zielte, erscheint im kulturhistorischen Rückblick auf 100 Jahre Deutsches Kaffeekränzchen in einem neuen Licht. Die Erfindung von Melitta Bentz ist eine Medaille mit zwei Seiten: die Verbesserung der Funktion lässt sich vom Wunsch, der die Funktion erst zu einer Funktion im Dienst der Wunscherfüllung macht, nicht trennen. Das trifft nicht nur zu bei Melitta – das gilt für jede „funktionale“ Produktentwicklung.