Samstag, 29. November 2014

Placebo schlägt Pharmakon? Das Pharmaprodukt, kulturwissenschaftlich betrachtet

Der konsumkulturelle Wandel vom Einkaufen zum Shoppen, vom Funktionskauf zum Impulskauf, hat mit ein wenig Verspätung auch die Apotheken erreicht. Das Warenangebot am Point-of-Sale der Pharmaindustrie hat sich entsprechend erweitert und angepasst. Aus einem der letzten widerständigen Orte naturwissenschaftlicher Rationalität ist ein semi-esoterischer Gemischtwarenhandel für Fantasie- und Seelenentlastungsprodukte geworden. Welche Schlüsse kann die Medizin und speziell die Pharmaindustrie aus der Beobachtung und Analyse dieser Entwicklung ziehen?



Im Verkaufsraum moderner Apotheken zeigt sich eine Aufteilung in zwei kulturelle Welten. Das Verkaufspult materialisiert und reguliert diese Trennung. Dahinter regiert die strenge Ordnung der Medikamente im engeren Sinne, studierte „Magister“ bewachen die Grenze der naturwissenschaftlich bewiesenen Wirksamkeiten. Davor drängen sich allerlei Alternativangebote dem Kunden entgegen. Sie versprechen die Sehnsucht nach Heilsein und Heilwerden auf eine Weise zu befriedigen, deren Begründung nicht nur keines Beweises bedarf, sondern eines ganz anderen Diskurses, einer anderen Logik und Rhetorik. Der Kunde sucht nach Ergänzung – doch was fehlt ihm zu jenem „heilen“ Ganzen, das er als Wunschbild imaginiert? Worin liegt sein Mangel, und warum kann die Pharmaindustrie diesen so wenig beheben, dass immer mehr Konkurrenz den Gesundheitsmarkt okkupiert? Forciert gefragt: worin überbietet das Placebo das Pharmakon?

Nicht nur bei einem Placebo tritt der nach ihm benannte Effekt ein, sondern auch bei einem wirksamen Medikament – gleichsam als „erwünschte Nebenwirkung“ des Glaubens an die Macht naturwissenschaftlicher Medizin. Daher hat jedes Medikament auch eine Placebo-Dimension. Diese ist integraler Bestandteil des Pharma-Produkts. Zumindest aus der (unbewussten) Konsumentensicht. Doch wie bewusst ist diese Tatsache den Produzenten? In jeder anderen Industrie ist es selbstverständlich, dass bei der Produktentwicklung und –Vermarktung alle Dimensionen berücksichtigt werden, in denen sich dem Konsumenten die Ware, der Wunsch nach ihr, ihr Nutzen und Wert erschließen. Warum gilt dies für die Pharmaindustrie nicht?

Es gibt in Kulturen nicht nur vielfältige Felder und Subsysteme von Differenzierung neben einander. Neben allen Mikrodifferenzen bilden sich manchmal auch übergeordnete Makrodifferenzen, sogenannte Leitdifferenzen heraus, die sich über lange Zeit halten können. Ihre höchste Macht entfalten sie als zweiwertige Logiken, als Gegensatzpaare und (im Falle emotionaler Aufladung) Polarisierungen. Schon am Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Ethnologe Claude Levi-Strauss die universelle Organisationsmacht von Leitdifferenzen für Kulturen beschrieben: „Das Rohe und das Gekochte“ haben als Beispiel seinem bahnbrechenden Werk den Titel gegeben. Ein moderneres Beispiel für eine Polarisierung, die wirkmächtig und scheinbar unüberwindbar das Denken und Wollen strukturiert, ist das Schema „Links-Rechts“ im System der Politik. Auch in der Apotheke begegnen wir einer relativ jungen, doch sehr starken Leitdifferenz unserer Kultur: Medizin versus Alternativmedizin.

Diese stehen wie zwei Kirchen, wie Glaubenssysteme neben einander. Auch wenn es mittlerweile allerlei Mischwesen gibt (intendierte wie auch unbeabsichtigte), bleibt es doch für den Umgang mit dieser Polarisierungsachse wichtig, deren Theologien gründlich zu verstehen. Die Gesundheitswelt ist derzeit Austragungsort eines „Clash of Civilisations“, eines Kulturkampfes zwischen grundlegend unvereinbaren Paradigmen der Heil(ung)serwartung, des Menschenbilds, Naturbegriffs und Körperverständnisses.

Nun ist das Placebo in gewissem Sinne das besterforschte aller Heilmittel, wenn auch nur in naturwissenschaftlicher Perspektive – schließlich kommt es als Vergleichsmittel in jeder empirischen Wirksamkeitsstudie zum Einsatz. Diese Häufigkeit wird jedoch bisher nicht für „Placeboforschung“ genutzt. Aus pharmakologischer Perspektive ist das Placebo ja nicht mehr als eine Negation der Pharmazie, ein Nichts. Gut erforscht ist nur der Placebo-Effekt seitens der Psychologie. Dieser Wissenschaft bleibt jedoch aus methodischen Gründen die Fragestellung verwehrt, was es ist, das da jeweils „gefallen und überzeugen wird“. Wie der Glaube wirkt, ist Forschungsthema der Psychologie, nicht aber der Glaubensinhalt.

Glaube als Bedeutungssystem ist rein kultureller Natur. Für die Erforschung von Mythen, Vorüberzeugungen, Diskursformationen, Zeichen- und Differenzierungssystemen in der Ästhetik und Rhetorik wäre die Kulturwissenschaft zuständig. Wenn die Produktwirksamkeit eines Medikaments auch nur zu einem kleinen Teil auf dem Placebo-Effekt beruht, müsste die Pharmaindustrie logischer Weise neben einer Abteilung für chemische Grundlagenforschung auch eine Abteilung für kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung betreiben, um ihr eigenes Produkt in vollem Umfang zu verstehen und weiter entwickeln zu können. In der Praxis meint man wohl eher, für Mythen, Sinnbilder und Sinnstiftung sei die Marketingabteilung zuständig, die ihre Kreativität beweisen soll, sobald das neue Produkt fertig ist. Sinn wird als immaterieller, dem Realen des Medikaments äußerlicher Zusatz betrachtet, und nicht als immanenter Bestandteil des Produkts, der mit den Mitteln der Produktentwicklung und des Innovationsmanagements zu erzeugen ist.

Für aufgeklärte vernunftorientierte Menschen ist es schwer, naturwissenschaftlich Begründetes und pseudoreligiöse Phantasmen auf einer Ebene zu betrachten. Kulturwissenschaft hat jedoch zur methodischen Voraussetzung, ihre Objekte der Forschung wertneutral zu beobachten, vergleichen und analysieren. Dass die Erforschung der Bedeutung einer „Heilkräutermischung der Heiligen Hildegard“ nur auf kultur- und religionsgeschichtlichem Wege gelingen kann, leuchtet unmittelbar ein. Auf dem selben Weg kann man sich jedoch auch dem modernen Pharmaprodukt nähern. Und im Vergleich der Verpackungen den Verzicht auf Bilder zugunsten der Sprache in den Blick bringen. Oder das typographische Tabu historisierender Schriften, die für den Märchen erzählenden Gegenspieler so charakteristisch sind.

Betrachtet man das Medikament – unabhängig von seinem Hersteller – als Markenwelt, muss man ihm optimale Markenführung und Wiedererkennbarkeit attestieren. An ihm ist alles künstlich, technisch, chemisch, glänzend, klinisch rein und weiß. Farbzonen sind artifiziell getönt und geometrisch. Kunststoff und Alufolie mögen technische Notwendigkeiten sein, für die kulturelle Wahrnehmung dieser Materialien ist entscheidend, dass sie aus homogenen naturfernen Flüssigkeiten gegossen sind und damit alle Spuren ihrer Genese und Geschichte getilgt haben, so dass sie als Tabula Rasa in ihrer grenzenlosen Plastizität absolute Erzeugnisse menschlichen Willens und technischer Zielgerichtetheit sind. Im Gegensatz dazu versuchen „natürliche“ Produkte, möglichst viele Spuren des Widerstands der Natur gegen die menschliche Funktionalisierung und Überformung erscheinen zu lassen. Braunes Papier etwa gilt als ungebleicht und daher einen Verarbeitungsschritt weiter weg vom Menschen und näher bei der Natur (auch wenn es bloß braun gefärbt ist). Verschnörkelte Buchstaben bei Esoterikprodukten sollen einen Tiefsinn als unergründliche Dimension des Produktnamens suggerieren, der sich mit seiner unökonomischen Umweghaftigkeit der zielgerichteten Geradlinigkeit serifenloser Pharmaschriften entgegen stemmt.

Süß und wohlschmeckend dürfen nur Kindermedikamente sein, für Erwachsene sind bittere Pillen Pflicht, weil erst das Opfern infantiler Begierden jener Isolierung und Abspaltung rationaler Körper-Selbst-Interpretation entspricht, die den Kern jedes medizinischen Heilungsversprechens ausmacht. Medikamente geben sich erwachsen, um an den Erwachsenen im Menschen zu appellieren, sich angesichts von Leid und Erkrankung nicht kindisch regressiv oder weinerlich, sondern bitte erwachsen zu verhalten. Erwachsen im Sinne eines Kindes der Aufklärung, also eines rationalen modernen bürgerlichen Subjekts.

Der tiefe Graben, der Pharmakon und Placebo voneinander trennt, hat eine lange Geschichte, die im impliziten „Storytelling“ gegenwärtiger Produkte weiter lebt. So wortreich der Beipackzettel daher kommt, vermeidet er doch geflissentlich, beispielsweise der Geschichte des Penicillin auch nur den kleinsten Absatz zu widmen. In dieser Geste ist die Medizin genuin modernistisch, ähnlich der Malerei des frühen 20. Jahrhunderts, die auch radikal gegenwärtig sein und jeden Bezug zu ihrer Tradition verleugnen wollte, um ihre Innovativität und Zukunftsmächtigkeit zu unterstreichen. Eine der Polarisierungsachsen gegenwärtiger Heilkultur zeigt sich darin, dass man das Pharmaprodukt als geschichtsvergessen, das „alternative“ Placebo als geschichtsbesessen bezeichnen kann.

Die Aufklärung, als historisches Fundament jeder modernen Wissenschaft, hat sich aus der Zurückweisung des Mythos, der dunklen Analogien, Sinnbilder und Heilsversprechungen konstituiert. Im Reich der Medizin geht heute die Negation des Mythischen so weit, auch die historische Erzählung ausschließen zu müssen. Dabei trägt die Medizin aus ihrer Geschichte eine schwere Erblast mit sich. Naturwissenschaft zog und zieht ihren Erfolg aus der Beschränkung ihrer Betrachtung und ihrer Methoden auf Messbares und Physisches. Was messbar wird, hängt jedoch ab vom Stand der Technik und von den Modellen, die zur Interpretation des Gemessenen zur Verfügung stehen. Für die Naturauffassung des 19. Jahrhunderts war ein vulgärer Materialismus charakteristisch, der sich auf linear-unidirektionale Kausalität beschränkte und in mechanistischen Modellen dachte. La Mettries populäres Theorem vom „Mensch als Maschine“ hatte die Dampfmaschine im Auge (während seine modernen Nachfahren den ungleich komplexeren Computer zum Vergleich heranziehen).

Heutige naturwissenschaftliche Modelle haben die Dampfmaschine weit hinter sich gelassen und können zirkuläre Kausalitäten und deren Verkettungen, multiple Interdependenzen von Systemen und auch Prozesse selbstorganisierender Musterbildung mathematisch abbilden. Die Komplexität ist so hoch, dass sie sich nicht mehr in populäre Sinnbilder übersetzen lässt. An diesem Punkt der Entwicklung kommt es der Medizin sehr zugute, wenn längst überholte Mythen aus ihren frühen Tagen noch immer in den Köpfen der Patienten nisten, bereit, das Sinnbedürfnis und die Heilserwartung zu befriedigen und so die Leere der Placebo-Dimension wirksamer Pharmaka zu füllen.

Jede naturwissenschaftliche Beschränkung der Methode führt notwendiger Weise zum Konstrukt eines Forschungsobjekts, das dem methodischen Ausschnitt der jeweiligen messenden Betrachtung korrespondiert. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich dem gemäß ein mechanistischer Begriff vom natürlichen Körper, dessen psychologischer Vorteil im Feld der Krankheiten darin besteht, dass sich der Patient von seiner Malaise distanzieren kann. So gern der Mensch sich mit seinem gesunden, jungen, schönen Körper narzisstisch identifiziert, so ungern tut er das mit dem „Gefängnis der Seele“, wenn dieses sich im schlechtest möglichen Zustand befindet. Die dualistische Fantasie, der eigene Körper könnte eine Maschine sein, die man selber von außen distanziert beobachten kann, ohne sie zugleich selbst zu sein, hat für den Leidenden etwas Rettendes. Schließlich lässt sich eine mechanische Maschine meist recht einfach und vor allem vollständig reparieren.

Die Verengung des Menschenbilds war verbunden mit Abspaltungen und Ausblendungen aller Aspekte, für die noch keine Messmethoden und Erklärungsmodelle bereit lagen. Der neue Typ von Wissen harmonierte mit einer bürgerlichen Kultur, die sich das Abspalten von Affekten zugunsten eines „vernünftigen Geistes“ auf die Fahnen geschrieben hatte. Als Mythen des Alltags sind die Ideen des frühen Aufklärungszeitalters immer noch im Umlauf. „Heroische Vernunft im Abwehrkampf gegen das irrationale niedrige Gefühl“, das beispielsweise ist ein Schema von ungebrochener Popularität, auch wenn es in der modernen Psychologie keinerlei Halt mehr findet.

Die Summe des Verleugneten und Abgespaltenen nennt man das Unbewusste. In diesem Sinne ist das Placebo das Unbewusste des Pharmakons: eine Projektionsfläche aller medizin-externen Dimensionen von Krankheitserfahrung und Heilungsphantasie. In den forciert künstlich aussehenden, mit dürren Rationaltexten übervollen Medikamentenschachteln sind alte Mythen einer längt verschwundenen medizinischen Rationalität beigepackt, die als heilsame Vereinfachungen das leidende Subjekt entlasten. Der geometrische Zeichenkörper der Pille verweist auf den Körper als Maschine, jenes aus dem Ganzen der Selbstwahrnehmung herausgeschnittene Konstrukt, auf dessen Utopie der Reparierbarkeit sich das mythologische Heilsversprechen der Schulmedizin nach wie vor stützt.



Die überholten Vereinfachungen und Abspaltungen sind aber nicht nur eine Schwäche der Schulmedizin, die ergänzenden Konkurrenten Spielraum bietet. Sie sind zugleich auf der mythologischen Ebene ihre größte Stärke: das, worin ihr funktionales Heilungsversprechen von einem fantastischen Heilsversprechen gekrönt ist. Wer an die Medizin glaubt, dem wird vom Pharmakon zusätzlich der irrationale Wunsch erfüllt, das Leid von sich abzuspalten, es einem als simple Maschine vorgestellten Körper zuzuschreiben und den Heilungsprozess als mechanische Reparatur zu imaginieren. „Nicht ich leide, nur mein Körper leidet“ – diese Isolierung gehört zu den wesentlichen Substanzen, welche die Placebo-Dimension auch des wirksamsten Medikaments mit irrationalem Sinn und quasireligiöser Heilsverheissung erfüllen.