Dienstag, 7. April 2015

Die Marke Ytong. Eine Liebesgeschichte.


Meine Wiederbegegnung fand auf einer Baustelle statt. Im Vorbeigehen erblickte ich ein Gelb, das mir Kindheitserinnerungen in den Kopf und ein Lächeln ins Gesicht zauberte: Ytong! Meine Erstbegegnung fand 1970 statt, als der Nachbar das erste Haus im Dorf aus Ytong-Steinen baute. Man muss sich in den Geist und die Ästhetik der 70er Jahre zurück versetzen, um die Faszination zu verstehen, die von dem neuen Baustoff ausging. Damals war der Fortschrittsglaube noch unversehrt, alles Traditionelle und Natürliche lehnte man ab, während das Künstliche, Technische und Chemische die Menschen in Euphorie versetzte.



Sowohl in der Architektur wie auch im Design waren Formen, die nicht zusammengesetzt, sondern fugenlos homogen wie aus einem Guss erschienen, groß in Mode. Sie symbolisierten das Ideal einer grenzenlosen Machbarkeit, die sich sogar von allen menschlichen Mühen des Zusammenstellens und Erarbeitens lösen wollte. Alle modernen Dinge sollten aussehen, als kämen sie aus einer Zukunft, in der allein der Gedanke des Designers genügte, um eine Form in Materie umzugießen. Die Dingwelt des Plastikzeitalters wollte den Eindruck erwecken, sie sei aus einer göttlichen Glückspastatube hervorgequetscht.



In diesem Kontext sah der gute alte Backstein ziemlich altbacken aus. Ytong hingegen verkörperte alle Ideale der Zeit: Fugenlosigkeit, zumindest annähernd. Homogenität in sich. Anti-Traditionalität und Künstlichkeit in der Farbe Weiß. Technizität in der abstrakten Geometrisierung. Chemie im damals modisch knalligen Gelb der Verpackung. Damit war jedem Kind der 70er Jahre beim ersten Anblick klar, dass Ytong ein Name für Modernität und Fortschritt ist. Der Buchstabe Ypsilon, der sich von einer dänischen Stadt ableitet, passte perfekt zur Ästhetik: da er im Deutschen als Anfangsbuchstabe eines Worts oder Namens kaum vorkommt, vermittelte er sofort den Traditionsbruch und das radikal Neue.




Der damalige Design-Kontext lässt sich am besten am Beispiel Luigi Colani illustrieren, der in seinem 1973 erschienenen Buch „YLEM“ eine komplette Zukunftswelt entwarf, in der alles zwischen Teekanne und Wolkenkratzer aus einem weißen homogenen Material unbekannter Herkunft zu bestehen schien. Mit seiner radikalen Design-Utopie ging er so weit, sogar die Menschenkörper umzuformen. Ausgehend von der Annahme, dass die Zukunftsmenschen weniger körperlich und mehr geistig arbeiten und die mit dem Produktivitätszuwachs gewonnene große Freizeitmenge für Lust und Sex verwenden würden, zeichnete er hochgewachsene dürre Körper mit überdimensionierten Köpfen und Geschlechtsorganen. YLEM war der Versuch, Darwinismus und Machbarkeitsglauben im Plastik-Guss zu verschmelzen. YTONG projizierte die Qualitäten des Plastik, Homogenität und modische Knallfarben, in die Welt des Baumaterials.



Als ich im Freundeskreis fragte, welche Assoziationen das Stichwort Ytong weckt, wurde mein erster Eindruck bestätigt: Die ersten drei Befragten antworteten sinngemäß mit „das war doch so ein 70er-Jahre-Ding...“ Der vierte vermutete ein Material für Innen- und Trockenbau.

Das Thema begann mich zu interessieren. Wie kam es, dass nach einem Start, der alle Zukunft versprach, bis heute weiterhin überwiegend mit Ziegeln gebaut wird? Markenstrategisch betrachtet, befindet sich Ytong in einer ambivalenten Situation. Misstrauen, ob man mit leichten und porösen  Quadern wirklich komplette mehrstöckige Gebäude bauen kann, steht extrem hoher Markenbekanntheit und emotional positiver Erinnerung gegenüber.



Wie könnte Ytong es schaffen, den Ziegel zu einem zweiten Wettkampf herauszufordern? Im Xella-Konzern steht Ytong neben etlichen anderen spezialisierten Marken. Sie ist die populärste und wäre damit gut geeignet, sich auf den Endverbraucher zu beschränken und diesem nur noch anzubieten, was er ihr zutraut und was sich nachvollziehbar und plausibel kommunizieren lässt: die Innenwand. Anstatt den Markt von der eigenen Sicht, Ytong sei der beste Baustoff für große Siedlungen, überzeugen zu wollen, wäre es weniger anstrengend, sich der gewachsenen Erwartung des Konsumenten zu fügen, um die uralte Liebesbeziehung zur Marke wieder aufleben zu lassen. Dies wäre für die Marke eine Strategie der Resonanz, des harmonischen Mitschwingens und der Wiederherstellung einer ungetrübten Beziehung mit dem Kunden von heute. Dieser ist nämlich mit dem Erfolgsrezept der 1970er Jahre nicht mehr erreichbar. Er lehnt es sogar ab, seit technischer Fortschritt weniger wiegt als „Natürlichkeit“, was auch immer das sei. Der Ziegel hat in der kulturellen Wahrnehmung 3000 Jahre Vorsprung dort, wo es um die Metapher des verlässlichen äußeren Schutzes, also der Außenmauer geht. Seine althergebrachte Authentizität lässt ihn als gewachsen und damit gleichsam näher dem Natürlichen erscheinen. Egal, wie gut Porenbeton aus funktionaler Sicht gleiches leistet, wird er auf sinnbildlicher Ebene vom Ewigkeit versprechenden Ziegel stets abgehängt werden. Anders bei Innenwänden, von denen eine dynamisierte Patchwork-Gesellschaft weniger Festigkeit, dafür aber mehr Veränderbarkeit verlangt. Die 70er-Jahre-Wurzeln hätten das Potential, im aktuellen Retro-Look kommuniziert eine sympathische Assoziation mit dem Wohnstil  zu knüpfen.




Gegen den Ziegel mit Messwerten zu argumentieren, ist zwar notwendig, erreicht die Herzen der Konsumenten jedoch nicht.  So individuell deren Sehnsüchte auch empfunden werden, bleiben sie doch geprägt von ihrer Geschichte und Kultur. 


Ziegel sind Ziegel? Die Marke macht den Unterschied.


Den klassischen Ziegel im heutigen Sinne gab es nicht erst bei den alten Römern, sondern schon 2800 vor Christi. Zeit genug, dass sich in jedes Menschenhirn eingebrannt hat, was ein Ziegel ist. Sprichwörtlich wurde, dass ein Ziegel dem anderen gleicht. Im Zeitalter der Marken stand der gebrannte Ziegel vor der Herausforderung, gebrandet zu werden, um als einzigartig wahrnehmbar zu werden. Wienerberger hat das früh begriffen und ist heute Weltmarktführer.


Meine erste Begegnung mit Wienerberger hatte ich 2004. Die Wiener Agentur Büro X hatte mich beauftragt, an der Konzeption des Geschäftsberichts mit zu arbeiten. Vom Unternehmen kam eine klare Positionierung und Selbstdefinition als Briefing (was äußerst selten ist): „Wir machen keine besseren oder anderen Ziegel als alle anderen, wir gehen mit der Organisation der Herstellung, der Logistik und des Vertriebs geschickter um, was zum Ergebnis führt, dass wir mehr Wert aus dem Ziegel generieren. Deshalb ist unser Claim Building Value – wir bauen Wert auf.“



Dieses auf der Ebene der Identität gewonnene Alleinstellungsmerkmal nahm ich für die Entwicklung meines Konzepts beim Wort und suchte nach einem metaphorischen Beispiel für die Idee, aus einfachen Ziegeln die höchstmögliche Wertsteigerung zu erzielen. Fündig wurde ich bei der Kunst. Dort entdeckte ich, dass es Skulpturen aus Ziegeln gibt. Künstlerisch miteinander verbunden, zeigten die Ziegel einen geradezu explodierenden Wertzuwachs. Ich schlug vor, dem Geschäftsbericht die Form einer fiktiven und augenzwinkernden „Kunstgeschichte des Ziegels“ zu geben: „Building Values. Art History of the Brick from Stonehenge to Wienerberger Geschäftsbericht 2004“.



Leider hatte der Chef von Büro X eine noch bessere Idee, wie ich (neidlos? sicher nicht!) zugeben muss. Andreas Miedaner erdachte mit dem „Langweiligsten Geschäftsbericht“ ein mit Preisen übehäuftes Konzept, das es unter die 20 besten Geschäftsberichte der Welt schaffte und sogar bis 2011 weiter gezogen werden konnte. Hohe Auffälligkeit und witzig kommunizierte Markensouveränität machten die Broschüre in der Finanzwelt zum Tagesgespräch.



Doch die Welt wandelt sich stetig und der Ziegel mit ihr. Nach Jahrtausenden der Ruhe wurde auch der gute alte Ziegel vom Zeitgeist der Innovation mit gerissen und begann, sich für vielerlei Zwecke und Anforderungen zu differenzieren. Porotherm als Sub-Marke von Wienerberger ist das beste Beispiel für den Trend zur Spezialisierung, der so weit geht, dass dafür sogar zusätzliche Marken benötigt werden. In der Folge änderte Wienerberger auch sein Selbstverständnis, seine Ausrichtung und Positionierung. Ab 2009 bewegte sich das Unternehmen vom Ziegelhersteller zum internationalen Baustoffkonzern: „Wienerberger reicht es nicht, der größte Ziegelhersteller der Welt zu sein, deshalb wandelt sich das Unternehmen zum Anbieter hochwertiger Produkt- und Systemlösungen für energieeffizientes Wohnen.“



Der Ziegel als Titelheld der Geschäftsberichte passte nicht länger zur neuen Identität, das machte 2011 ein grundlegend neues Konzept für die Darstellung des Unternehmens nötig. Auch der Claim wurde ausgewechselt. Statt „Building Value“ lesen wir nun „Building Material Solutions“ unter dem Logo.



Im ersten Schritt hat die Marke das Produkt so abgebildet, dass damit eine Differenzierung zwischen Marke und Ziegel, mehr noch: eine deutliche Abhebung und Distanzierung kommunizierbar wurden. Die damit abstrahierte Marke wurde fit für den zweiten Schritt der Abstraktion, der sie allgemein genug erscheinen ließ, um einen neuen Inhalt, ein vielfach erweitertes Produkt- und Leistungsangebot, überdachen zu können


Samstag, 4. April 2015

Intelligentes Material. Das Un-Ding, dem die Zukunft gehört

Was bedeutet überhaupt "Material"? Ist es das Gegenteil eines "Dings"? Ist es das Realste, was es gibt, oder eine reine Abstraktion und philosophische Spitzfindigkeit? Und ist es nicht paradox, von "intelligenten Materialien" zu sprechen? 


Material ist stumm. Das war von Anfang an so, denn schon der Urknall, in dem es entstanden sein soll, konnte nicht nur deshalb nicht gehört werden, weil es noch keine Ohren gab. Dieser Knall war kein lautliches Phänomen, er ist von Anfang an eine Metapher des Anfangs, eine Matrix / Mutter der Existenz alles Materiellen überhaupt.

Material bewegt sich nicht von selbst. Es ist passiv, träge, schwer und ruhend. Eine Totgeburt der Schöpfung, nichts als unförmiger Widerstand.

Material ist dumm. Selbst wenn es knarzt, weil es sich doch mal dehnt oder spannt, gibt es zwar Laut, ist aber immer noch stumm, weil dumm. Es hat uns nichts zu sagen.

Derzeit ist eine Revolution in Gang, die erste lautlose Revolution der Geschichte: Das Materialzeitalter ist angebrochen, und kaum einer hat davon gehört. Und doch: „Intelligente Materialien“ sind schon zum Schlagwort geworden! Zwar weiß man nicht, was dieser Ausdruck bedeuten soll, aber er hat Charme. Besticht er doch mit der Paradoxie, Intelligenz jenem Phänomen zuzusprechen, das unter allen Phänomenen dieser Welt das garantiert unintelligenteste ist: dem rein Stofflichen. Das klingt unterhaltsam, macht kurz Karriere in Medien, und ist schon wieder stumm – materialgerecht, könnte man sagen.

Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit – lang ist es her, dass Epochen nach Materialien benannt wurden. Heute erleben wir einen Stafettenlauf von Leittechnologien, die einander in immer schnellerer Folge ablösen in ihrer Faszinationskraft der Öffentlichkeit. Dampfmaschine und Eisenbahn prägten noch ein Jahrhundert, ebenso später das Automobil. Wie lange währte das Zeitalter des Fernsehens? Das des Computers, des Internet, der Gentechnologie, der drahtlosen Konnektivität elektronischer Minigeräte? Zu einem Medienhype bringt es technologische Innovation nur dann, wenn sie sich ins Gewand alter mythischer Bilder hüllen und mit überbordenden Heilsversprechen ausstatten kann. Die Gene versprachen erneut Zugriff auf den Wesenskern, der vernetzte Multimedia-Desktop platzierte das gute alte Auge Gottes auf den Schreibtisch, das Handy mutiert gerade zum universalen Zauberstab. Dass tote Dinge zum Leben erwachen können, zu sprechen beginnen und sich als beseelt (im Sinne von selbsttätig) erweisen, ist uns aus Märchen, Mythen und Träumen vertraut und aus der interaktiven Gerätewelt mittlerweile alltäglich gewohnt. Doch es sind stets Dinge, Objekte, denen wir lebendige Aktivität und auch intelligentes Kommunizieren zutrauen. Das Material ist eine Stufe des Seins unterhalb der Dinge, ist bloß das, woraus die Dinge gemacht sind. Wie sollte das Material selber aktiv und reaktiv auftreten können? Nicht einmal im Traum oder im Zeichentrickfilm kann Material ohne Objektform auftreten und als Nachtgespenst durchs Zimmer tanzen. Material bleibt prinzipiell stumm, dumm, träge und unanschaulich formlos. So sehen wir es als übrig gebliebener Bodensatz antiker Philosophien, frühneuzeitlicher Naturwissenschaften und praktischer Diskurse der Ingenieure. Wie sollte nun dieser dunkle amorphe Klumpen des Ungebrauchten plötzlich als „intelligent“ charakterisierbar geworden sein?


Auch wenn die mikroelektronischen „smart devices“ in ihrer Funktion und ihrem Innenleben für uns undurchschaubar sind, projizieren wir doch alltäglich unseren Maschinenbegriff des 19. Jahrhunderts in sie hinein und trösten uns über ihre Unanschaulichkeit damit hinweg, dass sie eben zu klein und zu kompliziert sind, um als Maschinen nachvollziehbar zu sein. Wir leben mit Black Boxes, kümmern uns nur noch um die Interfaces und begnügen uns mit dem Wissen um ein paar Anwendungen, die wir gern nutzen. Das Innere der elektronischen Maschinen hat sich verdunkelt, in der Black Box ist es so finster wie im Inneren eines Faustkeils. Haben sich die Maschinen dank Miniaturisierung nicht den Materialien angenähert, zumindest in der Alltagswahrnehmung?

Material ist unsichtbar. Hat schon jemand Materie ohne Form gesehen? Auch Rohstoff hat eine Form, eine rohe Form. Material nennen wir etwas, an dem wir eine Form wahrnehmen und den abstrakten Gedanken daran knüpfen, dass eine Form aus etwas bestehen muss. Material ist somit die Abstraktion eines Aspekts wahrgenommener Formen. Wir können nur Formen wahrnehmen, niemals Materialien. Und doch sind wir gewohnt, im Material dasjenige zu erblicken, was uns den Realitätsstatus einer Formwahrnehmung garantiert und diese von der bloßen Erscheinung, von medialer Repräsentation oder halluzinatorischem Trugbild unterscheidet.

Wir leben in einer materiellen Welt, haben ein materialistisches Weltbild, orientieren uns nach materiellen Werten und gleichzeitig kommt uns der Materialbegriff abhanden. Das ist beinahe schon tragisch. Postmaterialismus und die Entdeckung des Immateriellen bieten wenig Trost. Die Philosophen haben den Begriff Materie schon lange zu den Akten gelegt. Die Physiker versorgen uns seit hundert Jahren mit Todesnachrichten dieses Begriffs, der sich um so mehr auflöst, je genauer man ihn erforscht. Nostalgisch blicken wir zurück in jene Zeit, als das Atom (griechisch „atomos“ = das Unteilbare) noch als unteilbares kleinstes Teilchen der Materie galt. Man konnte sich ein materielles Ding darunter vorstellen, nur zu klein, um es mit freiem Auge zu betrachten. Ein kleines Ding, aus dem die größeren gebaut sind. Doch dann wurde es nicht nur geteilt und wieder geteilt, auch die Teilchen der Teilchen waren gar keine richtigen Teile mehr in dem Sinne, dass man sie sich wie Bauklötze vorstellen konnte. Die ganze Baumetaphorik des materialistischen Weltbilds stürzte ein! Worauf kann man aber noch bauen, worauf sich verlassen, wenn die Teilchen auch bloße Wellen oder überhaupt nur noch Wahrscheinlichkeiten auftretender Effekte und Anwesenheiten sind?

Die Physiker des 19. Jahrhunderts haben uns durch die Erforschung der Materie letzte Gewissheit, und damit Wahrheit über die Wirklichkeit versprochen, um dann im 20. Jahrhundert uns das Fundament jeglicher Realität, die wir auf die Idee der Materie gegründet hatten, unter den Füßen wegzuziehen. Die Atomisierung des Atoms in nichtmaterielle, nur aus messbaren Reaktionen maschineller Versuchsanordnungen modellhaft konstruierter und nur noch statistisch mathematisierbarer „Elementarteilchen“ zählt zu den großen Kränkungen des Menschen durch die Wissenschaft. Verstoßen aus dem Zentrum des Universums, selber bloß ein komplexeres Tier mit einem Geist wie eine Maschine und einer Seele, die nicht einmal Herr im eigenen Hause ist, verschwindet nun auch noch die Materie als Träger und Realitätsgarant aller Erscheinungen. Der Wille zum Wissen hat – nach einem kurzen manischen Delir in der Hochzeit des Materialismus, dem 19. Jahrhundert – sich in ein Zauberlehrlings-Syndrom verwickelt und wird die Folgen der Entzauberung nun nicht mehr los. Was trägt noch, wenn sich selbst die einst so handfeste, alltagsrobuste Materie als bloße Abstraktion und Illusion erweist?

In Brüssel wurde jüngst das Atomium aufwendig restauriert – als Denkmal einer vergangenen Epoche (des Atomzeitalters!) zieht es Touristen an, weil es als modernistische Absolutheitsinszenierung historisch geworden ist. Mater Materia, den „Atombusen“ damals innovativ mit „Bikini“ (benannt nach jenem Atoll, auf dem die Atombomben getestet wurden) geschmückt, nährte Hoffnungen auf endgültige Herrschaft über alles Materielle und – in Bombenform – über alle Länder der Erde gleich mit. Hast du das kleinste Teilchen, kannst du die Welt in ihre Einzelheiten zerlegen und neu zusammenbauen, so lautete die atomare Vision einer zweiten Schöpfung aus menschlicher Allmacht. Aufklärung, metaphorisch ein Programm, durch Zerteilen der Phänomene Licht in die dunkle Materie zu bringen, schien an ihr Ziel gelangt, und damit in ihre Krise. Der Griff ins Feste griff ins Leere. Denn zwischen den Teilchen ist leerer Raum – ein Mikrokosmos, dem Endlichkeit ebenso abgeht wie dem Makrokosmos.

Seither sind wir pragmatischer geworden mit unserem Wissen, versuchen nicht mehr, Alltagswissen mit Naturwissenschaft und Philosophie unter einen Hut zu bringen, und haben das Wort Wissen heimlich und systemwidrig in den Plural versetzt. Für das Hantieren mit Gebrauchsgütern, Artefakten, Rohstoffen und Werkzeugen sind wir zu Descartes und Marx zurück gegangen und haben beschlossen, die Vision des Atomiums trotz besseren Wissens beizubehalten. Nur so können wir unseren Glauben aufrecht erhalten, dass es eine materielle Welt gibt, der gegenüber man sich vernünftig und realistisch verhalten kann, und daneben etwas Nichtmaterielles, Geistiges, mit dem man sich beschäftigen kann, nachdem die Arbeitswoche vorbei ist. Als real gilt immer noch, was „man angreifen kann“, weil es aus Materie besteht. Das trifft zwar nur auf Festkörper innerhalb des menschlichen Gebrauchs zu, ist aber deshalb umso praktischer. Dieser simplen Ordnung zufolge wurde oft (selbst von Hegel in einer dunklen Minute) die Luft dem Geistigen zugeordnet, und nicht dem Materiellen. Praktisch eben (wenn auch nicht unter Wasser gültig...).

Mit dieser „realitätstüchtigen“ Entkoppelung der Alltagsbegriffe Materie und Material von Wissen und Reflexion ließe es sich gut weiter leben, wenn nicht die Alltagswelt selber von neuen Technologien in einer Weise verwandelt würde, die eine Anpassung der Begriffe und Vorstellungen von Realität an diese Realität nötig machte, um weiterhin die eigene „Welt“ zu verstehen. So ist es etwa immer noch gewöhnungsbedürftig, in Medien nicht etwas Geistiges, sondern etwas Materielles zu sehen, obwohl bereits ein großer Teil der uns umgebenden Oberfläche im Stadtraum Medienfläche ist.

Ebenso verschwinden zusehends jene Maschinen, die noch aus Teilen zusammengesetzt waren, welche aus Material gefertigt waren, die mechanischen Maschinen also, aus unserer Lebenswelt und werden durch elektronische Geräte ersetzt. Um einen Computerchip zu begreifen, ist jedoch ein kybernetischer Maschinenbegriff nötig, und der kommt ohne jeden Bezug zu einer bestimmten Materie aus, weil er nur mathematische Operationen und Steuerbefehlsketten umfasst.

Ausgestattet mit Mikroelektronik kommt uns der auf Materie, Ding, Maschine, Teil etc. basierende Realitätsbegriff gerade dort abhanden, wo er sein letztes praktisches Refugium gefunden hatte – im alltäglichen Umgang mit der Dingwelt, mit allem, was der Mensch angreifen kann.

Denn in der Hand halten wir meist das Handy, und in diesem wird Information in einer Weise prozessiert, die man ebenso gut als materiell wie als geistig beschreiben kann, wenn man denn alte Begrifflichkeiten weiter ziehen will. Silizium-Kristalle, in dünnsten Schichten gestapelt, ordnen schwache elektrische Ströme, die sich im Zusammenwirken mit deren Struktur selbst organisieren (Steuerung der Steuerung der Steuerung...). Und auch wenn man einen Chip nicht als intelligentes Material bezeichnet, so ist er doch das zentrale Symptom unserer technischen Kultur für die Konvergenz von Information und materieller Struktur zum medialen Objekt.

Es sind die neuen Dinge, die wir handhaben, die uns metaphysische Dualismen wie „Geist und Materie“ zunehmend abgewöhnen, nicht nur auf der Ebene der Philosophie, sondern des Verständnisses von Gebrauchsanweisungstexten. Die Informationsmaschinen sind nur von ihrer Informationsebene her zu begreifen, sie bestehen aus informierter Materie und das Programm ist in ihnen zum strukturierten Ding verfestigt. Die materielle Struktur ist Information, und die Information existiert nicht außerhalb einer informierten Materie.

Damit ist ein Modell des Verständnisses von Realität erreicht, das neue Sichtweisen auf das Phänomen Material eröffnet, deren Folgen, als technische Erfindungen, gerade erst zu wuchern beginnen. Die Materialwissenschaften sind im Aufwind, weil mit der Verabschiedung eines metaphysischen Vorverständnisses und aller baulichen Metaphern heute Fragestellungen möglich sind, die noch vor Kurzem undenkbar waren. In den wissenschaftlichen Modellen, die bei technischen Entwicklungen zur Anwendung kommen, bekommen philosophische Konzepte weit reichende praktische Wirkungen. Intelligentes Material muss denkbar sein, damit eine Versuchsanordnung konzipiert werden kann, in der sich die Möglichkeit schließlich als Wirklichkeit erweist.

Der alltagspraktische Begriff von Material hat bisher im Bereich des Bauens seine am wenigsten problematische Geltung behalten können. Umgekehrt ist die Erfahrungswelt des Bauens immer schon der metaphorische Bezugsrahmen, aus dem der Begriff Materie seine evidente Sinnhaftigkeit in Philosophie und Naturwissenschaft bezogen hat. Die Frage, „aus was etwas ist“, hat im Baugeschehen eine fraglose Relevanz.

Doch auch das Bauen wird komplexer. Steine oder Ziegel wie Atome aneinander reihen und auftürmen ist nicht mehr für alle Bauten charakteristisch. Schon bei der statischen Konstruktion eines Gefüges von Verstrebungen materialisiert sich eine Rechenoperation in einer Weise, die eine Unterscheidung von Information und Materie unsinnig erscheinen lässt. Umso mehr, als nun auch intelligente Materialien, die auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren, zunehmend in Bauten Verwendung finden.

Damit diese Entwicklung weiter voran geht, bedarf es nicht nur ausreichender Information zur Sachkenntnis. Es muss auch ein neues Verständnis von dem, was Material heute überhaupt heißt, erlangt werden, um gedanklich die heute materialisierte Intelligenz in die eigenen Gestaltungsansätze und Herangehensweisen zu integrieren.

Intelligentes Material denken zu lernen, ist heute nicht nur eine philosophische, sondern eine berufspraktische Herausforderung für alle, die Wirklichkeiten gestalten. Denn wer wollte nicht den Materialien, die er verwendet, gedanklich gewachsen sein?

Die Baustelle. Warum das Lieblingsärgernis des Stadtbewohners auch Freude machen kann.


Die Baustelle ist die häufigste und emotionalste Erlebnisform von Veränderungen der Infrastruktur im Stadtraum. Sie provoziert meist Ablehnung, vor allem bei Straßenbau- und Großprojekten. Doch sie kann auch Freude bereiten, wie jene Menschen beweisen, die lange Zeit an Bauzäunen stehen, um zuzuschauen. Schutthaufen, Ziegelstapel, Kräne und Mischmaschinen bestimmen das Bild. Was macht sie so einladend, dass wir gerne verweilen? Womit weckt die Baustelle unsere Schaulust?



Das moderne Leben wird schnell gelebt. Auch als Zuschauer medialer Unterhaltungsangebote haben wir steigende Ansprüche an die Geschwindigkeit, den Abwechslungsreichtum und die Intensität der Dramatik. Die im Musikvideo und Werbeclip entwickelten raschen Schnittfolgen prägen heute auch den Film und das Fernsehen. Sogar Texte unterliegen einem zunehmenden Druck zur Kürze, um noch gedruckt zu werden. Die Spanne der Aufmerksamkeit wird kleiner, ihre Anforderung an Kurzweiligkeit wächst. Umso erstaunlicher ist es zu beobachten, dass das Bestaunen einer Baustelle sich gegen die multimediale Konkurrenz aller Schauangebote halten kann. Nach dem Vorbild der Berliner Infobox auf dem Potsdamer Platz, die sich zum Touristenmagnet entwickelte, wurde in Wien der höchste hölzerne Aussichtsturm der Welt gebaut, um die Großbaustelle Zentralbahnhof gebührend ins Visier nehmen zu können. Was aber will man dort sehen?

Als Bühnen des Entertainment sind Baustellen ungemein handlungsarm. Ihre Protagonisten bleiben gesichtslos. Der Plot kommt zwar stetig, aber in solcher Langsamkeit voran, dass der Zuschauer den Sinnzusammenhang einzelner Vorgänge gar nicht herstellen kann. Vielleicht erzeugt dieses Ratespiel die Spannung? Im Baustellentheater sehen meist Wartende Wartenden zu. Dramatik und Bühnenbild könnten öder nicht sein. Die Aufführung dauert Jahre. Und der Erzählstoff des Stücks ähnelt dem des Telefonbuchs: viele Personen, wenig Handlung.

Die Baustelle ist das unspektakulärste Spektakel der Welt. Trotz der inflationären Häufigkeit ihres Vorkommens ist und bleibt sie eine Ausnahmeerscheinung, und zwar eine programmatische. Ihre lokale und zeitliche Unterbrechung unserer ansonsten fest gefügten Welt spricht als Thema die Menschenseele an. So wenig diese Wüste bildlich hergibt, so viel an Sinnbildlichkeit spendet sie uns. Gerade weil es in Erdhaufen und Ziegelstapeln kaum Bedeutsames zu erspähen gibt, lädt uns die Baustelle ein zur Projektion und metaphorischen Füllung der Lücke, die sie ins Wiedererkennbare und Wohlgeordnete schlägt. Alles Anwesende verweist auf noch Abwesendes und provoziert einen Brückenschlag durch die Fantasie. Wir staunen, gerade weil nichts zu sehen ist außer dem gewaltigen Abstand zwischen Schutt und gerenderter Vision. Wir erblicken das Chaos und sind zugleich daraus gerettet vom Wissen, einen hochgradig geplanten und funktional geordneten Ort vor uns zu haben. Jede Anhäufung von Material ist mit Bedacht gewollt und wartet auf ihre sinnhafte Verwendung, die nur dem Zaungast Rätsel aufgibt. Und wenn die Arbeiter nichtstuend herumstehen, sind sie nicht etwa faul, sondern gehorchen damit einem exakt durchökonomisierten Aktionsplan, der bloß momentan ihr Warten erzwingt. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts war das freilich anders. Der biertrinkend untätige Bauarbeiter war am Beginn der sozialdemokratischen Ära eine politische Ikone von alltäglicher Anschaulichkeit.

Auch wenn heute auf Baustellen rascher und ökonomisierter gearbeitet wird als je zu vor, wirkt das Geschehen in der Außenperspektive dennoch wie in Zeitlupe, denn zu fern liegt das große Ergebnis, als dass die tausend Schritte dahin sich zu jenem lebendigen Bild des Bauens synthetisieren ließen, das man zuletzt als Kind mit LEGO-Steinen erlebt hat. Überspitzt gesagt sieht man auf Baustellen Vieles, nur nicht, dass etwas auf nachvollziehbare Weise aufgebaut wird. Das Errichten einer Ziegelmauer ist jene Ausnahme, welche diese Regel bestätigt. Doch diese Bauweise ist bei Großbauten selten geworden und nimmt auch bei Einfamilienhäusern den kleinsten Teil der Gesamtbauzeit ein. Montage ist an die Stelle des Auftürmens getreten. Die damit gestiegene Komplexität erfordert einen höheren Grad an Organisation, der vom Bauzaun besehen jedoch den Eindruck des Unzusammenhängenden und Chaotischen noch verstärkt. Die Baustelle staut nicht nur den Fluss des Verkehrs, sondern auch den der Zeit. Die Baulücke ist zugleich eine Lücke im Zeitregime, sie hat ihren eigenen Takt und weiten Horizont. Der Bauzaun markiert eine Schwelle, an der zwei Zeitlichkeiten aneinander geraten. Anders als der Actionfilm, dessen Montage die alltägliche Taktung überschreitet, fasziniert die Baustelle dank Unterschreitung des Lebensflusses. Damit überbietet sie ästhetisch den Zeithorizont des Betrachters. Dem „Verein zur Verzögerung der Zeit“ stünde es gut an, Wallfahrten zu Großbaustellen zu organisieren.

Verführung des Bodenlosen

Der Bauzuschauer sieht von seinem festen Standplatz aus auf ein Terrain, dessen Bodenfestigkeit prekär ist. Lockere Erde, Schlamm, Gruben und Schächte gefährden den sicheren Tritt von unten, Gerüste, Kräne und Traversen verunsichern hoch oben das Stehen und Gehen. Bauen ist eine vertikale Herausforderung nicht nur des Gleichgewichtsorgans, sondern auch des metaphorischen Sinns für die Verlässlichkeit des irdischen Daseins auf dem Boden der sogenannten Realität. Die Baustelle zieht uns gleichsam existenziell den Boden unter den Füßen weg. Auf dem hohen Gerüst sehen wir den übermütigen Ikarus in seiner Gefährdung. In der Tiefe der Baugrube begegnen wir allen Assoziationen des Unterirdischen, vom der Gruft über das Verlies bis zum schaurigen Keller, vom Hades bis zum Höllenreich. Unter der Erde liegt, zumindest für die kindliche Seele (und das, was von ihr im Erwachsenen fortlebt), ein imaginärer Raum des Dunklen, der sich mit Projektionen der Angstlust füllt. Nicht ohne Grund spielen die meisten Horrorfilme ebenso wie Videospiele im Untergrund, in jenen Kellergeschossen, wo Vampire, Dämonen, Folterknechte, Teufel, Ahnen und Klopfgeister aller Kulturen nichts als zuhause sind.

Wo Mutter Erde sich auftut, fürchtet man, von ihr verschlungen zu werden – wer hätte Ähnliches noch nicht geträumt? Vor allem tiefe Baugruben, wie die von U-Bahn-Stationen, kann man zwar vernünftig betrachten, untergründig jedoch nur als Abgrund erfühlen. Von unten her wird dem Beschauer somit einiges an Affektabwehr abgefordert. Diese emotionale Distanzierung wird szenisch im Bauzaun, der dinglichen Differenzlinie zwischen Bühne und Zuschauerraum. Der Zaun sichert nicht nur die körperliche Integrität. Sein Gitter rahmt auch jene Szenerien, in denen der Kranführer zum zauberkräftig fernwirkenden Helden, der Bagger zum phallisch durchdringenden Berserker mutiert. In der Spielwarenindustrie zählen Baufahrzeuge und –werkzeuge zu den Klassikern der Beliebtheit. Ihr Potential, dem Jungen durch Materialdurchdringung und Erdbewegung das Gefühl zu geben, weltbewegend zu wirken, macht sie zum Kultgerät schlechthin für die Initiation zur Männlichkeit. Baustellen sind gewaltig und gewalttätig gegenüber Materie und Natur. Das weckt jenen erotischen Schautrieb, der sich schon in der Kindheit daran entzündet, sehen zu wollen, was „darunter“ ist. Die Erde will durchbohrt sein. Unter ihrer dünnen Kruste west das Unterbewusste dichter als anderswo.

Erde ist staubförmige Vergangenheit, gespeist aus Abrieb von Steinen und Resten abgestorbenen Lebens. Tote Biomasse, der unsichtbar Keim und Nahrung zu neuem Austreiben und Erblühen innewohnen. Der Mensch begegnet auf der Baustelle jenem Staub, der er ist und dereinst werden wird. Grabung rührt an Gräber – wo sie dies nicht nur imaginär, sondern real tut, treten die Archäologen auf den Plan und stören den Zeitplan. Beim Aushub für den Wiener Zentralbahnhof wurde ein Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg ausgegraben und sogleich ins nahe Heeresgeschichtliche Museum übersiedelt. Die Leichen im Keller der Gesellschaft kommen ans Licht und mancherlei Bomben haben ihre Sprengkraft bis heute bewahrt. Das Unterirdische ist ein Speicher des objektiven Gedächtnisses. Für Archäologen ist es wie ein Stück alter Text, der zu entziffern ist, weil er Geschichte erzählt. Unsere Vorgeschichte, die unser Fundament bildet, unsere Wurzel und unser Archiv.

Das Erhabene und die Kunst

Die Baustelle ist ein ästhetisches Ereignis, wenn sie als solche betrachtet wird. Es ist jedoch nicht die Ästhetik des Schönen, die zum Verweilen des Blicks und zur Kontemplation verführt. Im Gegenteil: ihre sprichwörtliche Hässlichkeit, ihre unverschämte Durchbrechung des (wenn auch nur vom Bemühen her) durchkosmetisierten Stadt- oder Landschaftsbilds, ihr vollständiger Mangel an Fassadenhaftigkeit und Adressiertheit an ein ästhetisch ambitioniertes Auge ist der Skandal, aus dem sich die visuelle Faszinationskraft speist. Die Baustelle ist der Ästhetik des Hässlichen zuzuordnen. An ihrer reinen Funktionalität, die uns Einblick gibt in die gesichtslosen Eingeweide der Konstruktion unserer Welt, erfahren wir, wie stark alles Andere ästhetisierend überformt ist und wie sehr unser Sehen heilender Verhüllungen des Seins bedarf. Sie führt uns die Fassadenbedürftigkeit des Menschengeschlechts vor Augen.

Das Rohe, das Brutale und das Chaos erhalten dank Baustelle in der dichtest zivilisierten Menschheitszone Stadt ihren kontrastierenden Ort der Szenifikation – eine Stelle des Ungestellten, die erst im Auge des zur Kontemplation aufgelegten Beschauers sich zum Schaubild zusammen stellt. Die Fähigkeit zur Synthesis des Wahrgenommenen wird von der Größe, Vielgestaltigkeit und Unordnung der Baustelle herausgefordert, wenn nicht überfordert. In der Theorie der Ästhetik firmiert der Reiz solch überbordender Phänomene unter dem Begriff des Erhabenen. Dieser bezeichnet – mit den Worten Friedrich Schillers – „ein gemischtes Gefühl, eine Zusammensetzung von Wehsein und Frohsein“. Erweckt wird es durch „alles Große, Kraftvolle, Mächtige, sofern wir uns ihm gegenüber klein dünken“ (Eisler). Die Komponente der Unlust resultiert dabei aus der “Unangemessenheit unseres Vermögens der Größenschätzung“, während wir angenehm empfinden, dass die „furchterregende Großheit“ und Macht über uns keine Gewalt hat, sofern uns der Bauzaun die Distanz sichert, die das ästhetische Wohlgefallen benötigt, um Erschreckendes zu genießen. Denn erhaben ist, wie der Philosoph Burke formulierte, „was die Vorstellung von Schmerz und Gefahr für uns zu erwecken vermag und auf irgend eine Weise schrecklich erscheint“.

Das Schöne, schrieb Immanuel Kant, „betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit an ihm, oder durch dessen Veranlassung, vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird«. Klarer lässt sich die Ästhetik der Baustelle in einem Satz nicht zusammen fassen.

Der Mangel an Form und Schönheit, das ambivalente Gefühl angesichts des unüberblickbar Gewaltigen einer Großbaustelle und die Schwierigkeit, sich ein klares Bild von ihr zu machen, provozieren eine Fülle kompensatorischer Versuche zur Verschönerung. Wovon man sich (wie von Gott) kein Bild machen kann, davon und dafür muss man Bilder machen. Hobbyfotografen können der Versuchung kaum widerstehen, an der unregelmäßigen Regelmäßigkeit aufgehäufter Stahlgitter und Betonrohre alte künstlerische Erfindungen wie Abstraktion und Verfremdung nachzuvollziehen. Sie wollen dem Unschönen durchs Wählen eines Ausschnitts Schönheit abzwingen, um sich als kreative Individualisten zu gerieren. Ebenso beliebt ist das Sujet „nackte Frau auf der Baustelle“, mit welchem etwa die Fotografin Susanne Hölzel „die weibliche Verletzlichkeit zum Ausdruck bringen“ will, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete – wenn auch nicht im Feuilleton, sondern wegen des Skandals, den die Ausstellung in einer Bayerischen Kleinstadt provoziert hatte.

Die Ambivalenz gegenüber dem Anblick macht sich am Bauzaun fest. Er schützt vor der Hässlichkeit und wird gern mit Bildern „geschmückt“. Behinderten-Kunst, Kindergarten-Malerei und Graffiti erfreuen sich großer Beliebtheit, wenn auch nur Seitens der Veranstalter und Ausführenden. Auch Künstler engagieren sich oder werden für „Kunst am Bauzaun“ engagiert, im großen Stil etwa 2005 in der „Hafencity Hamburg“. Der Erfolg ließ sich nur danach bemessen, wie rasch die Bilder geklaut waren. Meisterwerke der Baustellen-Kunst sind selten. Heimo Zobernigs Staubnetz, das nur das Logo des Sponsors Generali abbildete, schrieb Kunstgeschichte. Sehr gelungen ist die Schriftlösung von Richard Hoeck mit Guckloch und der Aufschrift „you can´t stop looking at this“ (Innsbruck 2009). Mein persönliches Lieblings-Bauzaun-Kunstwerk stammt von Stephanie Hartung, es erinnert mich an Lucio Fontana. In die Abdeckfolie des Zauns hat die Künstlerin Löcher geschnitten. Durch sie fällt auf ultimativ künstlerische Weise der Blick auf das geordnetste Chaos der Welt.