Mittwoch, 12. August 2020

Die Urlaubsreise. Ein Nachruf.

Im Sommer eine Urlaubsreise anzutreten gehört zu den Selbstverständlichkeiten mitteleuropäischer Alltagskultur. Das könnte sich nun ändern. 



 Die Debatten um den Klimawandel werden immer hitziger geführt. Fernreisen um des Vergnügens willen sind in die Kritik geraten. Wer eine Kreuzfahrt gebucht hat, traut sich in gewissen Kreisen gar nicht mehr, von seinen Urlaubsplänen zu erzählen - das Image der Luxuskreuzer hat sich von "schwimmenden Paradiesen" zu Dreckschleudern gewandelt. 

Vorbei die Zeiten, als sich die Bewunderung, auf die man im Herbst hoffen konnte, von einer möglichst hohen Zahl an Flugmeilen ableiten ließ. Wer heute auf einer Party "Karibik" sagt, blickt mit hochgezogenen Schultern verstohlen grinsend in die Runde, gefasst, den Shitstorm wenigstens mit Humor zu nehmen. 

Urlaub, Klima, Urlaubsklima

 Das gesellschaftliche Urlaubsklima erleidet gerade einen Stimmungswandel. Man muss nicht mehr an Chemtrails glauben, um die von Fliegern in den Himmel gezeichneten Streifen als Zeichen des Unheils zu deuten. Am Strand liegen und in die Luft schauen hat damit seine Unschuld verloren. Es ist kaum noch möglich, unter Palmen in einem Magazin zu blättern, ohne mit dem drohenden Anstieg des Meeresspiegels journalistisch behelligt zu werden. 

Immanuel Kant hätte diese Situation so formuliert: Der durchkreuzte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir können nicht länger synthetisiert werden. Je heißer die Sonne auf die Erde niederbrennt, um so dunklere Schatten wirft sie auf die beliebteste unserer Traditionen - die Urlaubsreise. 

 Sollen wir beginnen, aufs Fliegen zu verzichten, wie es immer öfter und lauter gefordert wird? Oder warten, bis es verboten ist, und die verbleibende Zeit rasch noch für möglichst viele und weite Reisen nutzen? 

Wie Monomeinung Skepsis produziert

Wer kein Meteorologe ist, findet in Medien die einzig mögliche Grundlage für diese Entscheidung. Die etablierten Medien sind in dieser Frage fast durchgängig der selben Meinung. Sie berichten, dass auch die Klimaforscher zu 97 % einer Meinung seien. 

Früher hätte einen so viel Einigkeit skeptisch gemacht. Immerhin galt Skepsis einst als philosophische Kardinaltugend des aufgeklärten Menschen. Doch wer in Klimafragen Skepsis formuliert, wird heute "Klimaleugner" genannt und ins Internet verbannt. Der Konsument liest nun im Web das Gegenteil vom Print. Seine Entscheidung wird ihm damit nicht leichter. 

 Wer alt genug ist, um auf eigene Lebenserfahrung zurückgreifen zu können, ist leicht verführt, die aktuelle Apokalypse als Nachfolgeprojekt all der angekündigten Katastrophen zu empfinden, die dann nie stattgefunden haben. Atomkrieg, Waldsterben, Eiszeit, Ozonloch und Rinderwahnsinn stellen die Erderwärmung in ein schiefes Licht. Dennoch hat man das Gefühl, der Klimawandel sei ernster zu nehmen. 

Haifisch- und Gewissensbisse

Wer überzeugt ist von der Wahrheit seiner Prophezeiungen, kann schwerlich begründen, warum er an seiner Urlaubsgewohnheit festhält. Das Argument, nichts werde so heiß gegessen wie gekocht, verliert vor der Aussicht, selbst gekocht zu werden, seine Strahlkraft. 

 Erst in einigen Jahrzehnten wird sich herausstellen, ob wir der nächsten Ente auf den Leim gegangen sind, oder nicht. Bis dahin müssen auch Zweifler damit leben, täglich mit Anschuldigungen konfrontiert zu sein. Fliegt man auf die Malediven, ist man in Gefahr, angesichts der Korallenriffe nicht vom Hai, sondern vom schlechten Gewissen gebissen zu werden. Das nimmt dem Urlaubsziel einiges seiner Erfreulichkeit. 

Auch dies ist ein häufiger werdender Grund, sich für die Bahnreise zum Plattensee oder die Fahrradtour zum Baggerteich zu entscheiden. Die gesellschaftlich zugemutete Schizophrenie, weiterhin möglichst viel Geld verdienen, sich damit aber nichts mehr leisten zu sollen, kann man dabei ein wenig abstrampeln. 

 Um uns den Verzicht auf Urlaubsreisen schmackhafter zu machen, lohnt sich ein kritischer Blick auf diese sehr junge Tradition. Massentourismus begann in den 1950er Jahren, Fernreisen wurden für die meisten Menschen erst in den 1970er Jahren erschwinglich. In der Nachkriegszeit herrschte lange noch eine Metaphorik der Eroberung, auch wenn sich die Okkupation fremden Territoriums auf das Badetuch beschränkte, mit dem man frühmorgens seinen Stammplatz am Strand von Lignano besetzte. 

 Auch kolonialistische Haltungen waren für die Urlaubskultur 1960 noch charakteristisch. Man erwartete von den Einheimischen Anpassung an ihre Gäste. Für Kellner und Speisekarten war die deutsche Sprache selbstverständliche Pflicht. Neben dem Espresso wurde "Deutschkaffee a la Melitta" gebrüht. 

In der zwänglichen Angestellten-Gesellschaft waren Arbeit und Urlaub die beiden alternierenden Phasen des Jahres. Man legte sich zwei Wochen lang reglos auf den Boden, um an jener Bräune zu arbeiten, mit der man den arbeitsfreien Urlaubsvollzug daheim dokumentieren wollte. Die Familie wurde in einen kleinen Wohnwagen gesperrt, der sich nicht selten in einen emotionalen Druckkochtopf verwandelte, wenn eine äußere Nähe kompensatorisch erzwungen wurde, die innerlich fehlte. 

Erst als Solarien die Fernreise simulierbar machten und der Ozonloch-Diskurs die Sonne zum Feind erklärte, hörte das Bräunen auf, Motiv für Langstreckenflüge zu sein. Weil die touristische Eroberung des Globus immer besser gelang, verlor sie allmählich ihren Reiz. Die schnelleren und billigeren Flugverbindungen rückten entlegene Orte nicht nur zeitlich, sondern auch zivilisatorisch, technisch und kulturell einander immer näher. 

Globalisierung als Feind des Tourismus

In einer globalisierten Welt begegnet man in fernen Ländern nicht mehr einer verblüffend fremden Kultur, sondern internationalen Standards, die sich von daheim kaum noch unterscheiden lassen. In den Museen hängen die immer gleichen Künstler von Paris über Abu Dhabi bis Buenos Aires. Auf den Flaniermeilen der Metropolen trifft man auf die gleichen Läden, Marken und Waren. Hotels, Autos, Bauwerke und Kleidung haben sich vereinheitlicht. 

Alte Bräuche und Gewänder erlebt man nur noch in für Touristen simulierter Form. Selbst die Kulturdenkmäler und Naturwunder verwundern einen nicht mehr. Schließlich hat man sie in vielerlei Medien längst schöner, genauer und näher zu sehen bekommen, als wenn man davor steht. Und wer Jagd auf das "noch Unberührte, Authentische" machen will, muss Gegenden aufsuchen, in denen es nichts gibt, was sehenswert wäre. Die sind dann auch tatsächlich ziemlich touristenfrei. 

Parallel dazu haben wir immer mehr Versatzstücke der Fremde in die Heimat importiert. Alle exotischen Küchen, die einst einen guten Teil der Fremdheitserfahrung ausgemacht hatten, sind in jeder europäischen Stadt vertreten. Auch religiöse Kulte und Praktiken, von Yoga über Zen-Bogenschießen und Mexikanische Indio-Esoterik bis zur Chinesischen Medizin, sind längst zu selbstverständlichen Elementen der europäischen Alltagskultur geworden. 

 Was man im Urlaub sucht, ist eine vom Alltag stark unterschiedene Erfahrung. Bisher konnte die geographische Distanz für uns die kulturelle Differenz und das Erlebnis des Unvertrauten herstellen. Dass dies immer weniger gelingen kann, ist ein ziemlich starkes Argument, nicht länger Zeit und Geld in geflogene Kilometer zu investieren. 

Längst wurde deren Prestige gegen Bedenken getauscht. Klimawandel hin oder her - für den Urlaub der Zukunft müssen wir uns ohnehin etwas ganz Neues einfallen lassen.

(Erstveröffentlichung Sommer 2019 in falstaff living)