Freitag, 19. Juni 2015

Die Sitzbank. Eine kleine Kultursoziologie des Sitzmöbels


Einen ungewöhnlichen Weg beschritt der Büromöbel-Hersteller Wiesner-Hager, um eine Innovation für die Möbelgattung "Sitzbank" zu kreieren: Bevor er einen Design-Wettbewerb für junge Gestalter ausschrieb, beauftragte er mich, das Produkt Sitzbank zu erforschen und durchdenken. Damit folgte Wiesner-Hager der Überlegung, den ersten Arbeitsschritt jedes Designers nicht nur zu rationalisieren, sondern dafür auch ein Maß an gedanklicher Durchdringung sicherzustellen, um das Qualitätsniveau der Einreichungen zu heben, den Wettbewerb effizienter zu machen und damit ein besseres Ergebnis zu erzielen. Nachdenken am Anfang hat schließlich noch selten geschadet, und eine kleine Investition in die Vorbereitung rentiert sich allemal, wenn 140 Designer sie fürs Unternehmen nutzen können. So entstand die Produktanalyse der Sitzbank:


Einladung zum Event der Präsentation der Design-Entwürfe von Wiesner Hager 

Die Sitzbank, eine Raumzone für die Zwischenzeit


Der Begriff Sitzbank unterscheidet nicht etwa die Bank, auf der man sitzt, von Schlachtbank, Datenbank, Werkbank, Samenbank und Kreditinstitut. Er meint vielmehr jene spezielle Sorte von Sitzgelegenheit, die weder Bank noch Stuhl, sondern ein Mischwesen aus beiden ist. Eine zur Bank verwachsene Stuhlreihe. Eine in Stuhleinheiten zergliederte Bank. Sein Vorkommen hat dieses Zwitterwesen im öffentlichen Raum, in Wartesälen, in Büros und Arbeitsstätten – noch nie wurde es im privaten Wohnraum gesichtet. In der Sitzbank zeigt sich somit wie in einem Symptom oder einem Standbild unsere moderne, urbane Auffassung von Öffentlichkeit, verstanden als Inbegriff all jener nichtfamiliären, nichtintimen und nichtprivaten Räume, die eigens für die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Menschen vorgesehen und eingerichtet sind, ohne ein bestimmtes Zusammenwirken oder gemeinsames Sich-auf-etwas-Beziehen dieser Menschen nahe zu legen. Dort also, wo Menschen als Vereinzelte beisammen sind in einer Nähe, die nach Hilfsmitteln der Distanzierung verlangt.

Die Sitzbank ist kaum als Möbel zu bezeichnen, denn es geht ihrer Konstruktion gerade um eine Einschränkung von Mobilität. Sie will die Orte des Sitzens so unverrückbar wie punktgenau fixieren und ist oft selbst fixiert am Boden oder an der Wand. Das macht sie zum Zwitterwesen auch noch in einem weiteren Sinne: mit der Immobilie verwachsen, ist sie halb Architektur, halb Mobiliar. Unentscheidbar war dies schon bei ihrem Urahnen, dem Chorgestühl gotischer Kathedralen.


 Modell "neunzig°" von Wiesner Hager 

Warum tut eine Bank so, als bestünde sie aus einzelnen Stühlen? Thema der Sitzbank ist die Individualisierung, welche hervorzuheben ist, wo Menschen sich ansammeln, ohne sich zu versammeln. Sie reagiert auf die spezifische gesellschaftliche Konfiguration der Moderne: Masse versus Individuum. Darin wird Identität nicht mehr aus einer Stelle in einem systematischen Gefüge (wie etwa Leibeigener eines Grundherrn) abgeleitet, sondern aus der leeren Einzelheit im Allgemeinen, um deren nähere inhaltliche Bestimmung der Einzelne sich selbst kümmern muss, wobei eine Sitzbank ihn unterstützen kann. Die moderne Form der Identität des bürgerlichen Subjekts konstituierte sich in einer Jahrhunderte übergreifenden Körperpolitik der Singularisierung und Distanzierung. Anhand der Geschichte der Gaststätten – als einer alten Form öffentlichen transitorischen Raums – lassen sich die Schritte der Vereinzelung der Körper gut nachvollziehen: Dass die reisenden Gäste einer mittelalterlichen Herberge im Stroh eng beieinander schliefen und die Körperwärme voneinander als einzige Heizung nutzten, fühlt sich für uns modernisierte Individuen als skurril und unvorstellbar an, obwohl erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in den Hotels das Gemeinschafts-Badezimmer verschwand, weil die fortgeschrittene Separierung der Körper ungeteilte Nutzung des Bades verlangte. Wir müssen davon ausgehen, dass bis vor Kurzem soziale und körperliche Distanz anders verbunden waren und sich entsprechend anders anfühlten, wie für uns Heutige. In gewissen Kontexten war Körpernähe offenbar bedeutungsneutral, und zwar im Hinblick auf soziale Distanzen ebenso wie auf intime.

Bildquelle: http://diepresse.com/home/leben/mode/375381/index


Der Gewinn aus dieser langfristigen kulturellen Strategie der Körperdistanzierung war auf der anderen Seite die Entfaltung eines differenzierten Bedeutungs-Kosmos der Intimität. Ein neuer Code koppelte Körpernähe semantisch an jene „Nähe“, die als situatives zwischenmenschliches „Gefühl“ und „Beziehungsverhalten“, als psychosoziales Konstrukt der „Intimkommunikation“ (so nennt Luhmann die Liebe) eine bedeutsame kulturelle Ausdifferenzierung erfuhr. Auch das Seelische, das Innerliche der Verbindung zwischen Menschen braucht äußere Zeichen und Dinge, an denen es sich festmachen und ablesen lässt. Gemeinsam auf einer Bank zu sitzen ist aufgeladen nicht nur vom familialen Raum der Bauernstube mit ihrer Eckbank, wo man zusammenrückt, sondern auch vom modernen Fernsehsofa, dem Paar- und Familienmöbel seit den 70er Jahren. Diese beiden häuslich privaten Familienbänke zeichnen sich dadurch aus, dass das Fehlen vorgegebener Sitzpositionen die Übergänge, Annäherungen und feinen Dosierung jener Intimität ermöglicht wie auch erzwingt, um die es innerfamilial geht, nicht zuletzt im Horizont der Regulierung von Reproduktion. 

Bildquelle: http://diepresse.com/home/leben/mode/375381/index


Die Figur des anonymen Einzelmenschen gibt es nur in der Großstadt und an Orten des Transits. Nicht nur in bäuerlichen und dörflichen Sozietäten, auch in der mittelalterlichen Stadt ist, wer nicht persönlich bekannt ist, als ein Fremder kenntlich. Die Verwandlung des Fremden in den bedeutungsneutralen anonymen Nebenmenschen außerhalb aller sozialen Bezugnahmen verdankt sich der Inflationierung seiner Anwesenheit als Folge von Verkehrstechnik und Wachstum der Städte. Grußlos an jemandem vorbeigehen zu können, ohne damit Verachtung zu signalisieren, ist der Kern und Hauptgewinn des Phänomens Urbanität. 

Innovation braucht Reflexion

In Flughäfen, wo die gesteigerte Transitorik zugespitzte Formen von Urbanität kreiert, finden wir daher die Sitzbank besonders häufig im Einsatz. Unter dem weiten Himmel der Wartehalle gliedern die Reihen der Sitzbänke das Terrain ganz städtisch in Geh-Straßen und Sitz-Unterkünfte. Die Sitzplätze machen Platz. Sie sind minimale Wohnsitze im maximalen Gebäude. Wer sitzt, räumt die Passage für die Gehenden, die hier Vorrang genießen. Man könnte von Menschenparkplätzen sprechen, von einem Zwischenlager für das Transportgut Körper in den Stau- und Leerzonen der vom Fahrplan getakteten Zeit. 

Bildquelle: http://diepresse.com/home/leben/mode/375381/index



Die Versesselung der Bank kompensiert die Hypertransitorik und Hyperanonymität der Malls, Passagen und Dritten Orte. Sie entlastet von Fraglichkeiten und Kommunikationen, die nur aufhalten würden: Wie viel Raum steht mir inmitten des Massendrucks zu? Wie nahe muss und darf ich mich zu meinem Nebenmenschen setzen, damit dieser mich weder als zudringlich noch als vermeidend empfindet? Diese unentscheidbare Frage kann nur von einem Gestell, das Abstände festlegt, kommunikationsfrei beantwortet werden. Die Dinglichkeit der Sitzbank entsorgt die Schuld aus der Verletzung aller Regeln des sozialen und zwischenmenschlichen Nähe-Ferne-Verhaltens, die der Reisende verinnerlicht mit sich führt, und hier vergessen oder abstreifen muss, um als weltbürgerliche Monade in angemessener Weise sich aufzuhalten. 

Bildquelle: http://diepresse.com/home/leben/mode/375381/index
 


Ginge es bloß um die internationale Konventionalisierung von Körperabstand zwischen Fremden, könnten symbolische Markierungen billiger, offener und spielerischer leisten, was von der Gliederung der Bank in Sitze so aufwendig erzwungen wird. Doch es geht auch um den Bezug des Sitzenden zu sich selbst, der aus dem fehlenden Bezug zum Nebenmenschen nun eben nicht mehr als soziale Identität im Sinne einer Zuschreibung abgeleitet werden kann, sondern nur noch aus der reflexiven Selbstgegebenheit des Vereinzelten, aus seiner leib-seelischen Subjektivität heraus produziert werden muss. Blickt man zurück in die Kulturgeschichte des Sitzens, erklärt sich rasch die Prädisposition der Stuhlform zur Lösung aller von der Bank aufgeworfenen psychosozialen Nöte: Vom Opferstock über den Königsthron, Richter-Stuhl und Bischofs-Sitz ging es diesem Möbel stets um das Hervorheben eines Einzelnen zum Zweck der symbolischen Repräsentation seiner Gemeinschaft, und nicht etwa ums Sitzen als Funktion. Erst die Figur des Bürgers, die sich einerseits von der bäuerlichen Bank absetzt und andererseits vom Monarchen her sich die Würde der ununterworfenen Einzelheit aneignet, um diese ganz ohne genealogische Herleitung künftig für sich zu beanspruchen. 


ZaZen Sitzbank von  Harald Auer 


Das bürgerliche Subjekt zeigt im verrückbaren, positionierbaren Stuhl seine Selbst-Ständigkeit und Unmittelbarkeit zum abstrakt gewordenen Staatsganzen nach der Überwindung des Feudalsystems. Der Bürger ist König in seiner Einzelheit als gleichgeordneter Staatsbürger unter anderen ebenso wie als ökonomisch selbständiger Kunde von Waren. Er ist so einzeln wie ein Held, wenn auch nicht auf dem Feld der Geschichte, sondern nur als Protagonist seiner einzigartigen Autobiographie. Identifiziert ist er nur noch über die Staatszugehörigkeit, alle anderen Beiträge zu seiner Identitätsbildung muss er selber leisten, so lange ihm keine Sitzbank dort stützend zu Hilfe kommt, wo seine Identität - als Unterschiedenheit ohne Grund - unter Druck oder gar in die Krise gerät. 

Bildquelle: http://diepresse.com/home/leben/mode/375381/index


Der moderne Weltbürger, die nomadisierende Monade in den Warteschleifen globaler Aufenthalts-Räume, gab bis vor wenigen Jahren meist das typische Bild des Wartenden ab. Die Sitzbank war meist Wartebank, eine Verlegenheitslösung im Sinne einer Lösung des Problems der Verlegenheit in Situationen erzwungener Funktionslosigkeit. Mit ihrer Fixierung der aufrechten Haltung verdeutlichte die Sitzbank, dass sie nur für kurzfristigen Aufenthalt, voll wach und jederzeit bereit zu neuerlicher Aktion, geschaffen ist. Nicht nur zum Liegen und Schlafen ungeeignet, sondern auch am tiefen Entspannen hindernd, hielt sie vom untätigen Sitzenden jeden möglichen Vorwurf der Faulheit fern. Sie brachte vielmehr dessen Körper in eine mittlere Haltung zwischen Anspannung und Ruhestellung, aus der heraus in jede mögliche Richtung potentiell zu agieren begonnen werden kann. 

Entwurf von Roland Ruf, Bildquelle Behance


Die Warteposition verdeutlicht sich als Startposition des Einsatzbereiten. Auf einer Sitzbank träumt man nicht, man fiebert dem Aufbruch entgegen. Der Tonus ist ein auf die allgemeine Dynamik des wachen Arbeitstages gerichteter, entsprechend dementiert die Sitzbank alle Verwandtschaftsbeziehungen zum Schlaf- und Kuschelsofa, zur Chaiselonge, nicht zuletzt zur beschaulichen Parkbank. Auf ihr sitzt man in einer ganz anderen Verfassung, als auf jenen schmalen Holzbänken vor traditionellen Bauernhäusern, die einem nichts tuenden Verweilen dienen, das kein Warten ist. Dieses von allen Zwecken entkoppelte Banksitzen an und für sich, als Zeitform reinen Daseins, ist aus der beschleunigten Welt der Termine, Zeitknappheiten und –Pläne verschwunden. Der Sitzbank fehlt bewusst jede Tauglichkeit zur Kontemplation. Die Ruhe auf ihr will eine aktiv wirkende Passivität, eine in Diensten der Leistung, Mobilität und Beschleunigung stehende Ruhe sein. Der Urahne der gepolsterten Bank, die Ottomane aus dem türkischen Harem, ist nicht bloß vergessen, sondern mit gutem Grund sind all seine Spuren ausradiert. Sich wollüstig räkeln ist nicht das Thema, vielmehr die Optimierung einer getakteten Zeitökonomie. Die Sitzbank füllt die Lücken des auf Lückenlosigkeit ausgerichteten Raum-Zeit-Kontinuums voll mobilisierter Gesellschaften. 

Realisiert: nooi / Wiesner Hager

Der Moderne wurde oft zur Last gelegt, sie habe unter dem Vorwand der allgemeinen Beschleunigung dem Individuum die Last des permanenten Wartenmüssens auferlegt. Entsprechend ungeliebt sind alle Wartebänke dieser Welt, verglichen mit anderen Möbeln. Doch die Ära des Wartens hat jüngst ihr Ende gefunden. Mikroelektronik begleitet und versorgt uns mit jedem gewünschten Interface an jedem Ort zu jeder Zeit. Damit ist auch für die Sitzbank die Zeit ihrer eng gefassten Funktionsbestimmung vorbei. Je nach dem, welches Programm im Notebook oder Handy aufgerufen wird, verwandelt sie sich in einen Bürostuhl, einen Kinosessel, einen Telefonierhocker, einen Musik-Entspannungs-Sessel, in ein Fernsehsofa, eine Spielbank und dergleichen mehr. Und sofern der Sitzende nicht selbst für ein mediales Gegenüber sorgt, das ihm die Leerzeit füllt, ist er zum Ziel von Kommunikation geworden, seit wir in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit leben, in der nicht kommunikativ genutzte Zeit zu einem an die Werbewirtschaft verkäuflichen Gut wurde. 

Edelweiss Industrial Design, realisiert von Wiesner Hager
Das Büro wurde offener und öffentlicher, umgekehrt wurde der öffentliche Raum durchgängig zu einem potentiellen Büro. Seit Bürotechnik mobil wurde, gibt es kein Nicht-Büro mehr – Büro ist überall dort, wo sich Gelegenheit zur Immobilität bietet. Die Zukunft der Sitzbank hat damit neue Perspektiven gewonnen. Sie geben die Richtung vor für die nächsten Schritte der Innovation.

Auf dem Event zur Siegerpräsentation liest der Autor seinen Text über die Sitzbank, dieser findet damit seine Zweitverwertung fürs Spektakel und für die Pressemappe.