Dienstag, 31. Dezember 2013

Das Innovationsmuster der Kaffeemaschine


Seit annähernd 250 Jahren gibt es Kaffeemaschinen – in hunderten Variationen. Sie alle können nur eines: Kaffee machen. Doch nicht nur in ihrer äußeren Hülle, auch in ihrer Bauart, Technik und Handhabung könnten sie verschiedener nicht sein.

Blickt man zurück auf die Geschichte der Kaffeemaschine, erkennt man eine Kette von Innovationen, bei denen eine Verbesserung des Funktionierens jedoch nicht im Vordergrund steht. Gerade weil der Zweck simpel und lange schon bestens erreichbar ist, verlagert sich die Innovation auf immer neue technische Wege, diesen zu erfüllen.


Dabei wird die Ingenieurleistung des Erfindens primär von irrationalen äußeren Trends getrieben. Die jeweils neue Technik wird zum Medium, das ganz im Dienste jener gesellschaftlichen, kulturellen, ästhetischen und metaphorischen Veränderungen steht, die die Wünsche und Sehnsüchte der Kunden prägen. Design und technisches Funktionieren sind dabei nicht zu trennen. Gemeinsam generieren sie eine Erscheinung, die primär Ausdruck der bewegenden Themen und Faszinationen ihrer Epoche zu sein hat.

Technische Rationalität und irrationale Wünsche verbinden sich immer wieder neu zur Produktinnovation


Damit ist die Espressomaschine ein Musterbeispiel dafür, wie die Veränderungen der Gesellschaft auf die technische Innovation einwirken. Und eine Mahnung an alle Produktentwickler, das technische Funktionieren niemals isoliert vom kulturellen und sozialen Umfeld zu betrachten. Denn was da funktionieren soll, der Sinn und Zweck des Geräts, kann aus der technischen Rationalität allein nicht abgeleitet werden. Es ist der Kunde, insgesamt die Gesellschaft, die vorgibt, was jeweils unter „funktionierend“ zu verstehen ist, und deshalb dann auch für den Hersteller am Markt „funktioniert“.


Zum Unterschied von anderen technischen Produkten kann die Entwicklung der Kaffeemaschine nicht von der Zielsetzung abgeleitet werden, immer „besseren“ Kaffee zu brauen. Denn die Sensorik hat bewiesen, dass Kaffee zu jener Sorte von Genussmitteln gehört, bei denen die Präferenz primär durch Initiation und Kulturation fest gelegt wird. Ähnlich wie bei Whisky und Zigaretten wird der bittere Geschmack beim ersten Kosten stets als unangenehm empfunden. Diese negative Komponente qualifiziert den Kaffee zu einem Ritualgetränk, das erst als eingelerntes Genuss zu verschaffen vermag. Dies unterscheidet ein Genussmittel vom Lebensmittel: die Schwelle des Einstiegs hebt es vom Nützlichen ab. Und die Überwindung der Schwelle fixiert als Initiationsritus den „gewohnten“ Geschmack.

Das Ergebnis ist beliebig und hängt von der Technik ab


Man wird nun einwenden, mit der Erfindung der Espressomaschine im engeren Sinne 1948 sei tatsächlich ein Fortschritt in der Qualität des Ergebnisses erzielt worden. Die Kombination von weniger Hitze und mehr Druck löst mehr und schmackhaftere Aromastoffe aus dem Mahlgut, kombiniert mit weniger Koffein und auch verträglicher für den Magen. Um so erstaunlicher ist es, dass diese Art der Zubereitung sich nicht rasch und flächendeckend durchgesetzt hat. Erst die Mode hat Espresso in Nordeuropa einen Teilmarkt beschert – mehr aus Gründen des Prestige, der Italien-Sehnsucht und des Zeitgeists, als aus Gründen des Wohlgeschmacks.

Die Bauart der jeweiligen Maschine bestimmt daher zumindest in gleichem Maße den Geschmack des Kaffees, wie umgekehrt das Ziel eines „guten“ Kaffees die Entwicklung neuer Zubereitungstechniken motiviert. Dieses Zusammenspiel von Technik und Ergebnis bewegt sich außerhalb eindimensionaler Mittel-Zweck-Relationen. Damit öffnet sich ein weiter Raum möglicher Gestaltungen und Funktionsweisen. In diesem ist in der historischen Rückschau besonders deutlich zu beobachten, wie Ingenieurskunst von kulturellem Wandel bestimmt ist. Und dass generell von einem Funktionieren nicht die Rede sein kann, ohne die dem technischen Denken vorausliegende Vorentscheidung der Gesellschaft, was denn als Ziel und Funktion überhaupt anzusehen und wünschenswert gilt. Auch Funktion bedarf der Geltung, und die Rationalität der Maschine ist angewiesen auf jenes der Rationalität Externe, das man Kultur nennt.

Wer das Innovationsmuster erkennt, kann ihm folgen und dabei Erster sein 


Auf das Thema gestoßen bin ich vor etlichen Jahren im Rahmen eines Beratungsauftrags seitens der WMF. Meine frühere Firma begleitete die Produktentwicklung einige Jahre lang. In der Arbeit ging es um Bestecke, erst bei einem Abendessen mit den leitenden Managern kam zufällig das Gespräch auf Kaffeemaschinen. Spontan fiel mir beim Rückblick in die Geschichte ein Entwicklungsgesetz auf, das ich gleich in die Diskussion warf. Etwa zwei Jahre später, das Abendessen war längst vergessen und die WMF nicht mehr unser Kunde, machte ich in einem Elektronikladen die freudige Entdeckung, dass mein Impuls Früchte getragen hatte. Doch worin besteht es nun, das Innovationsmuster der Kaffeemaschine?


Während der traditionelle türkische Kaffee in einer simplen Kanne zum Kochen gebracht wird, wobei der Satz sich durch die Schwerkraft beim Auskühlen von der Flüssigkeit trennt, wurde bei der Übernahme des Getränks in Europa schon im 18. Jahrhundert nach technischen Mitteln gesucht, diese Trennung zu verbessern, obwohl dies Einfluss auf das Aroma hatte. Schon die erste spezifisch technische Intervention in die Herstellungstradition borgte sich Verfahren und deren damalige äußere Gestalt von einer erfolgreichen Wissenschaft und Technik, der Chemie (und ihrer noch nicht klar abgegrenzten Vorgängerin, der Alchemie, in der das „Abscheiden“ der Elemente voneinander im Zentrum stand). Die ersten Kaffeemaschinen sahen aus wie aus dem Chemie-Labor: Glaskolben, von metallenen Halterungen über einer Flamme positioniert, verbunden mit Rohren und Schläuchen. Vorbild war die Destillation, ein Verfahren, das bereits Fortschritte für sich verbuchen hatte können.

Leittechnologien faszinieren die Gesellschaft


Daneben waren freilich auch allerlei Varianten im Gebrauch, die den technischen Aspekt, wie damals allgemein üblich, hinter architektonischen Formen oder designerischen Traditionen der Tischkultur zu verdecken suchten. Der nächste große historische Schritt setzte sich im 19. Jahrhundert durch. Entsprechend dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt stand ab nun die Physik im Zentrum der Aufmerksamkeit, vor allem die Dampfmaschine. Diese revolutionierte die Industrie und den Transport und wurde so zur Leittechnologie der Epoche, aber auch zum Sinnbild für den Fortschritt an und für sich. Und so nimmt es nicht Wunder, dass alsbald auch die Kaffeemaschine dem Zug der Zeit folgte und sich metaphorisch wie auch technologisch von der Chemie zur Physik, vom Glaskolben zur Dampfmaschine bewegte.
Die metaphorische Dimension dieser Verschiebung war so deutlich, dass sie auch den Zeitgenossen nicht entging: eine große Variationsbreite von Modellen ahmte die Dampflokomotive nicht nur im technischen Kern, sondern auch in der äußeren Gestaltung unmittelbar nach. In Technikmuseen lassen sich vielerlei Geräte bestaunen, die wie Dampfloks aussehen, aber Kaffeemaschinen sind.


Als Motiv hielt sich die Dampfmaschine bis in die 1940er Jahre, verlagerte sich jedoch vom äußeren Anblick der Lokomotive zur inneren Perspektive des Lokführers, der nun als (männlicher) Barista vor der Maschine stand und deren mitunter äußerst komplexes Funktionieren steuerte. Die schon am Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführte Kombination von Wasser und Dampf erlebte eine wahre Sprunginnovation erst in der Jahrhundertmitte, als mit dem mechanischen Hebel der Druck als dritte Komponente dazu kam und damit nicht nur das Funktions- und Gestaltungsprinzip, sondern auch die Qualität des Ergebnisses deutlich verbesserte.

Das Vernünftige entsteht aus dem Unvernünftigen


Jetzt erst war Espresso im heutigen Sinne möglich. Espresso, der auch seinen Namen verdiente.
Das Erstaunliche an dieser Entwicklung ist, dass diese Erfindung zuerst aus sinnbildlichen, zeitgeistigen Motiven gemacht wurde, und erst ein halbes Jahrhundert später eine damit mögliche Funktion hinzu entdeckt wird. Dies zeigt, was in der Geschichte der Technik schon oft beschrieben wurde: dass nämlich selten nur eine Funktionsidee der Entwicklung von Ingenieurslösungen voraus geht, sondern historisch häufiger ein Spiel oder Zufall am Anfang steht, das nachträglich zu rationalen und funktionalen Verwendungen der dabei zutage getretenen Effekte anstiftet.


Die Umstellung auf Elektrizität hatte zwar eine Vereinfachung der Zubereitung, dabei aber keine wesentliche Änderung am Funktionsprinzip oder am Ergebnis mit sich gebracht. Doch wer nun glaubt, die Erleichterung und Beschleunigung des Kaffeemachens sei als Fortschritt im funktionalen und rationalen Sinne zu begreifen, irrt. Betrachtet man den heutigen Markt der Heim-Espresso-Maschinen, so zeigt sich, dass neben der Convenience auch das umgekehrte Prinzip, vor allem im hochpreisigen Segment, wachsende Marktanteile gewinnt: Das Prinzip der Komplikation. Siebträgermaschinen machen das Kaffeekochen zu einem äußerst zeitraubenden, umständlichen und von schwankendem Erfolg gekrönten Vorgang. Es geht dabei um ein Ritual, das (ähnlich wie die erwähnte Bitternis) den Genusskaffee vom Alltags- und Allerweltskaffee abzuheben gestattet und damit auch eine soziale Distanz zwischen dem wahren Connaisseur und dem gemeinen Bürokaffeemenschen markiert. Obwohl wir das Prinzip, uns Zeitstrecken auf lustvolle Weise möglichst schwierig und anstrengend zu gestalten, aus allen Sportarten (aber auch Kreuzworträtseln für den Gehirnsport) kennen, fällt es uns schwer, bei der Produktentwicklung nicht dem Glauben an die universale Gültigkeit des Nützlichkeitsprinzips anzuhängen. Die Verkleinerung des Aufwands für ein Ergebnis mag im B2B Bereich gelten, für Consumer Products gilt es manchmal, manchmal auch nicht.


Zwei besondere Modelle, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute erfolgreich sind, dürfen nicht unerwähnt bleiben. Als innovationsresistenter Klassiker hat sich die Bialetti-Kanne erwiesen. Technisch eine Vorgängerin des Espresso-Prinzips, folgt sie in ihrer inneren Organisation dem alten Geist der Alchemie, ein Stück Weit auch der Physik der Dampfmaschine, denn sie benutzt die Verdampfung, um das heiße Wasser durch den Kaffee zu treiben. In ihrer äußeren Gestalt aber ist sie bis heute der Ästhetik des Kristallinen verpflichtet, einem Design-Stil, der zwischen 1900 und 1920 mit seiner natürlich anmutenden Geometrisierung zur Geburt der Klassischen Moderne beigetragen hatte. Im Symbol des Kristalls schimmert auch noch ein wenig der Stein der Weisen als zentrales Symbol der Alchemie durch. Ihm wurde zugetraut, ein Element in ein anderes zu verwandeln. Im Optimalfall in Gold. Im Falle des Kaffees wandelt dieser Kristall ein braunes Pulver zu duftendem Kaffee.


Das zweite Modell, das Hervorhebung verdient, hat sich entlang der Geschlechterdifferenz von der männlichen Linie der Dampfmaschinen abgesetzt, es wurde von einer schwäbischen Hausfrau entwickelt, die auf den Vornamen Melitta hörte. Weder Chemie noch Dampfmaschine, sondern simple Küchentechniken wie Löschblatt, Trichter und Sieb kommen zum Einsatz, der Vorgang erfolgt gemächlich und gemütlich, die Brühe ist sparsam, ergiebig und dünn. Die kulturelle Produktanalyse im Detail sei einem folgenden Kapitel vorbehalten.


In den 50er bis 70er Jahren wurde im Privathaushalt die Melittatechnik elektrifiziert, automatisiert und mit Kunststoffhüllen umkleidet. Spektakulär waren hingegen die Gastronomie-Geräte. Technisch wurde nur der Handhebel durch elektrische Pumpen ersetzt. Die ästhetische Hülle jedoch gab sich dem Glanz der Moden hin. Zwischen bauchigem Wurlitzer und Straßenkreuzer in den 50ern, rechteckig modernistisch in den 60ern, popig mit runden Ecken in den 70ern. In den Achtziger Jahren folgten postmoderne Rückgriffe auf die Hebelmaschinen, auf die Moderne folgte die Nostalgie.


Ab den 90er Jahren zeichnete sich in der Gesellschaft ein grundlegender Richtungswechsel der Technik ab. Waren bisher Transporttechnologien und deren Beschleunigung (von der Dampfmaschine übers Auto und Flugzeug bis zur Rakete) im Zentrum der Aufmerksamkeit und des Selbstverständnisses gestanden, so gingen nun Medientechniken in Führung. Nicht mehr der Mensch sollte durch die Welt bewegt werden, sondern die Welt wurde zum Menschen transportiert, erst durch das Fernsehen, dann das Internet, heute im Modus des mobilen Online-Seins.


Die Kaffeemaschine folgt in ihrer Entwicklung den jeweiligen Leit-Technologien. War es da nicht naheliegend, oder geradezu zwingend, deren Design in eine zumindest assoziative Nähe zu den jeweils aktuellen Gerätschaften des Medienempfangs zu rücken? Genau das tat die WMF, mit viel Erfolg. Die Gastro- und größeren Haushaltsmaschinen lehnten sich an die Fernsehgeräte an, um an der Faszinationskraft des Flachbildschirms zu partizipieren. Die Kaffeemaschine wurde zur Theaterbühne und zum Rahmen. Aus „elektrisch“ wurde „elektronisch“, das zeigte sich am modernen Display. Und als der iPod den Musikkonsum revolutionierte, zögerte WMF nicht, eine neuartige technische Lösung zu entwickeln, die es gestattete, eine auf individuellen Genuss zugeschnittene kleine Maschine zu entwickeln, die aussah wie ein iPod.


Daraus sollte man jedoch auch nicht zu viel an Schlussfolgerungen ziehen. Auch wenn die Kaffeemaschine den aktuellen Leittechnologien stets auf den Fersen ist, wäre es zu einfach, bloß Ausschau zu halten nach neuen Vorbildern, um diese dann eins-zu-eins in eine Kaffeekoch-Maschine zu übertragen. Produktentwicklung ist komplexer, oder sollte es zumindest sein. Das zeigt sich am Erfolg von Nespresso, der nur teilweise (im Modell „Cube“) auch die Hardware-Form von Apple übernahm, im Wesen aber sich nicht am Äußeren, sondern an neuen Organisationsprinzipien sich orientierte, um zum quintessenziellen Kaffee-Produkt des Internet-Zeitalters zu werden. Doch auch Nespresso ist ein Kapitel für sich – und soll auch als solches hier abgehandelt werden.










Dienstag, 26. November 2013

Das Jetbett

Produktanalyse einer Innovation der 1970er Jahre


Wer kennt es nicht, das Kulturschandmal in Bettgestalt, in dem das durchschnittliche junge Aufsteiger-Ehepärchen der 70er Jahre Nacht für Nacht wohl vergeblich nach dem Mehrwert des Schlafes fahndete? Kann man beim Schlafen mehr als schlafen, beim Liebe machen mehr als lieben? Bis hinein in die 1980er Jahre gab es ein Objekt, das solcherlei Steigerungsformen versprach: das Jetbett. Wir wollen es seinem Wesen nach das Vollintegrierte Totalbett nennen. In den damals neuen gigantomanischen Möbelhausmaschinen am Stadtrand füllte das Unding ganze Etagen, in hunderterlei Variationen. 1974 vom Hersteller Ruf auf den Markt gebracht, generierte das "Jetbett" bald 70% des Umsatzes.




Du betrittst ein Möbelhaus, beinahe vertreibt Dich der ätzend-chemische Möbelgeruch, doch der neue Lift zieht Dich magisch an, es ist ein vollintegrierter totaltransparenter Rundlift, der dir die Möglichkeit bietet, in einem Zylinder auf und ab geschoben zu werden und dabei auch noch den Überblick zu bewahren. Und dann die Bettenetage! Tausende Quadratmeter voller Schlummertüten, Wunschmaschinen, Polsterhügel, Sexgräber, Schlaflandschaften, Rustikalpodeste, Körperablagen. Alles, nur kein Bett. 

Das Vollintegrierte Totalbett (kurz: VTB), wer könnte es erfunden haben? Sicherlich kein Architekt oder Designer, denn dann hätte es wohl Beine, oder wäre zumindest nicht so amorph und scheinbar amöboid-wabernd. Ein Marketingfachmann mit tiefenpsychologischer Grundausbildung dürfte sein fragwürdiger Urheber gewesen sein. Denn das VTB ist ein durchkalkuliertes Angebot zur Regression. Da ist kein infantiler Wunsch übrig, der in ihm nicht vergegenständlicht wäre. 



Warum etwa darf das VTB keine Beine haben? Etwa wegen des Stauraums für das Bettzeug? Nein, denn der ist nur ein Rationalisierunggebilde mit dem Zweck, den Triebstauraum zu verschließen, den die infantile Paranoia in der dunklen, unsichtbaren und daher unkontrollierbaren Zone unterm traditionellen Bett projektiv lokalisiert. Der Pavor nocturnus, die frühkindliche Angst vor der Dunkelheit, siedelt das Reich der Geister, Repräsentanten der Triebe, Verbote und Ängste, im Schattenreich zwischen den Bettbeinen an. Das Unterbewußte, das dem traditionell-funktionalen Bett äußerlich bleibt und topisch konsequent nur unter diesem vermutet werden kann, wandert beim VTB in das Bett selber ein, indem es ihm die Form gibt. 

Das VTB hat keine Hohlräume und Nischen, keine unsichtbaren Zonen, die von Ängsten bewohnbar wären, es ist vielmehr gekennzeichnet durch eine homogene, geschlossene, pralle Äußerlichkeit. Es wirkt stets wie aus einem Guß gemacht, nicht gezimmert, sondern geknetet, wenn nicht gar vom Herrgott persönlich aus einer Tube voller himmlischer Glückspaste hervorgequetscht. Doch der Zwang zur geschlossenen Außenhaut, zur undurchbrochenen Körperlichkeit, verrät die Anstrengung, die es kostet, sich die Ängste mittels Design vom Leib zu halten. Zum Unterschied von einem Bett, das eine Vorrichtung ist, auf der sich ein Körper ausruhen kann, ist ein VTB selbst ein Körper. Dieser Körper suggeriert, selbst ein Lebewesen zu sein, denn er ist aktiv, steckt voller geheimer, versteckter, eben totalintegrierter Funktionen, die den Schlaf zum Erlebnisschlaf steigern sollen. 




Das VTB verheißt keine Ruhe, im Gegenteil, noch der Schlaf wird umgedeutet zur Aktivität. Ein multifunktionales high-tech-Bett für den Aktivschläfer, Vollschläfer, Totalschläfer, Extremschläfer, Halbschläfer - gar für den Wachschläfer? Der Körper des VTB-Wesens hat keine Kanten und Ecken wie ein Möbel, sondern ist rundum rund und weich, aerodynamisch geformt (für Flugträume), gepolstert und Plüschbezogen, ein freundliches Pelztier, das seine vollintegrierten Nachtkästchen wie Arme ausbreitet, die bereit sind, den Schlummerer zu umschlingen. Komm in meine Arme, Liebling, jubelt der Bettkörper dem Konsumenten zu, in Morpheus' Arme, und der alte Morpheus rotiert gequält in seinem Himmelbett.



Aber was ist denn nun da alles integriert in jenem Totalbett, das so sehr aus einem Stück ist und doch voller Funktionen steckt? Der individuelle volldigitalisierte Weck-Alarm mit Zeitanzeige im Kopfkissenbereich, der den Schläfer daran erinnert, was er früh morgens zu beginnen hat, um die Raten des 1500-Euro-Bettes zurückzahlen zu können. Wie tief der Schläfer auch schläft, die integrierte Weckuhr wacht für ihn, leuchtend und blinkend erzählt sie von ihrer Unermüdlichkeit, die anderntags die Unermüdlichkeit des Bettenbesitzers einleuten wird. Dann wäre da das individuelle Radio mit Schlummertaste und Lautsprecher im Ohrbereich, ebenfalls vollintegriert und im Design zum Totalbett abgestimmt. Mütterchen Bett singt ein Schlummerliedchen. 



Auf die Höhe der medialen Totalversorgung hebt den Schlaflosen ein Elektromotor, der auf Knopfdruck den Kopfteil des Bettes hochfährt und in eine Rückenlehne verwandelt: die Fernsehstellung fördert die Aufnahmebereitschaft für die abendliche Ankoppelung an das elektronische öffentliche Bewußtsein. Ein eingebauter Ganzkörpervibrator entspannt die müden Glieder so, daß unnütz lange Einschlafzeiten vermieden werden können. So beschleunigt das VTB den Gesamtschlafprozeß und steigert somit die Produktivität ebenso wie die Intensität der Freizeitnutzung des Schlafkonsumenten. 



Auch die Leselampe darf kein Eigenleben führen, integriert in den Nackenwulst vermittelt sie dem Bett eine für Betten ungewöhnliche neue Qualität - sie bringt das Bett zum Leuchten. Weiters integriert: der Aschenbecher zur Beerdigung des Überbleibsels des letzten Lutscherlebnisses vor dem Einschlafen, und ein Pillendöschen für das obligate Schlafpulver, das man wohl braucht in einem derart aktiven Intensivbett. Die Liegefläche ist von einem Wulst umwunden, der auch die Funktion eines Tisches verspricht, denn auf manchen Werbebildern sind darauf Sektgläser abgestellt. Neben einem solchen Bett haben, wie ich dem Prospekt weiters entnehme, Palmen zu stehen, wenn es stilgerecht zugehen soll. So ersetzt das Totalbett den Urlaub, den man sich nach dessen Kauf sowieso nicht mehr leisten kann.



Manch ein VTB hat in den Kopfteil auch Spiegel integriert, als einziges Zeichen, daß es nicht nur Schlafbett, sondern auch Sexbett ist. Sein Sex ist der der modernen Warenwelt: narzißmusgerecht und selbstkontrolliert. Spätestens beim Spiegel wird klar, daß in einem VTB nur solche Körper schlafen können, die stylingmäßig hineinpassen. VTB-Besitzer müssen Bodybuilding betreiben, wenn sie es ästhetisch mit ihrem Bett aufnehmen wollen. Setzt ein VTB-Besitzer mit den Jahren Fett an, so muß er wohl sein Bett verkaufen, wenn dessen Perfektion ihn nicht beschämen soll. Schrecklich muß es sein, in einem solchen Unbett krank zu sein, der ästhetische Widerspruch zwischen dem Menschen- und dem Bettenkörper würde eine Genesung schwerwiegend verzögern. Die größte Tragödie aber wäre es, in einem VTB sterben zu müssen, verlacht vom eigenen Totenbett. 



Der VTB-Schläfer unterliegt seiner bedeutungsträchtig aufgeplusterten Unterlage, die im Schlaf noch über ihn herfällt mit ihrem Überschuß an Sinn. Das Bett dient nicht mehr seinen vielfältigen Funktionen, sondern übernimmt die Herrschaft über das Selbstgefühl eines Menschenlebens, indem es am schwächsten Punkt ansetzt, um seinen Sinn dem schlafenden Körper aufzudrängen. Dieser ist im Verhältnis zu dem massiven Bettkörper nur noch Zubehör. Das Riesenbett ist buchstäblich eine Falle, wie man sagt. Es verschlingt den Schläfer, verleibt ihn sich ein, lutscht ihn sich 'rein, lullt und döselt ihn ein, macht ihn zunichte, bewußtlos. Im vollintegrierten Totalbett erlebt der Benutzer seine eigene Totalintegration ins Vollbett. 



In einem Bett, das singt, leuchtet, wackelt, den Körper bewegt und ihn einschlafen und aufwachen macht, muß man alle Hoffnung begraben, daß die Menschheit jemals erwachsen werden könnte. Wie soll aus einem Regressionsbett morgens ein mündiger Bürger schlüpfen? Einer, der zu den Dingen, die ihn umgeben, ein anderes Verhältnis entwickeln kann, als das der Identifikation mit ihnen? Das zur totalversorgenden Plüsch-Supermutter aufgeblähte VTB ist ohne Zweifel eine Volks-Infantilisierungsmaschine. Es muß daher als ernste Bedrohung der abendländischen Kultur angesehen werden, jawohl!



Was aber ist der Hintersinn, was ist das Betriebsgeheimnis jenes Bettes, das zugleich Cockpit einer fliegenden Untertasse, technoides Mäusenest, Körperkochmulde, autoerotisches Kuschelfahrzeug, Schnellschläferwerkzeug und Traumbackofen sein will? Ohne Zweifel ist das VTB eine ödipal-inzestuöse Wunschmaschine, eine Traumverdichtung. Das Bett selber wird zum Liebesobjekt, tritt an dessen Stelle. Es lädt zum Liebesakt ein, aber nicht mit dem Partner, sondern mit ihm, dem Bett. Es hat einen Körper, um zu suggerieren, daß das Ins-Bett-Schlüpfen eine Vereinigung zweier Körper ist. Im VTB steckt das Versprechen einer libidinösen Autarkie, eines perfekten Zustandes des Immer-schon-versorgt-Seins. Alle Entbehrungen des realen Sexuallebens verheißt das Bett wettzumachen. Gleichzeitig beschwört es auf magische Weise den Sex herbei - wenn auf diesem Bett keine Orgiastik stattfindet, ja, wo soll sie denn dann...
Doch psychoanalytisch allein ist die Tiefe der VTB-Polsterung nicht auszuloten. Die Textilmuster geben weitere Hinweise, welchem Muster der Text folgt, den das Bett zu uns spricht. Bunt blühende Orchideen recken ihre prallen Stempel der Haut des Schläfers entgegen, Tigerfelle scheinen unter ihm ausgebreitet, Dreiecke und parallele Linien aus dem high-tech-Design zeigen Exaktheit, Funktionalität und Rationalität am Schlafplatz an. Pflanzliches, Tierisches und Technisches weisen auf das Grundmuster des VTB hin: die Verschmelzung des Organischen mit dem Maschinellen. Hierin können wir den Grund für die Integration aller funktionellen Teile in den Bettkörper erkennen. Lampe, Radio und Wecker wären für sich genommen eindeutig Maschinen. Mit ihrem Einbau in den Bettkörper verlieren sie ihren Maschinencharakter und werden zu Organen, die dem Bettkörper Lebendigkeit verleihen. Das Bett wird zoomorph, wird scheinbar zum Lebewesen. Die Funktionen werden zu einer diffusen Einheit homogenisiert.



Unter der Plüschhaut konstituiert sich die Einheit des Bettsubjekts. Dieses ist eine organische Maschine und ein maschineller Organismus. Was an der Vorstellung des Organs noch maschinell ist, wird möglichst kaschiert, um nur noch die Innen-Außen-Differenz des Bettes zum Zeichen einer vitalen Einheit hochzustilisieren. Scheinbar ist das Bett dank seiner geschlossenen Oberfläche ein organloser Körper, gleichzeitig omnipotent. Die geschlossene Einheit des VTB verspricht dem Schläfer die Erlangung einer ähnlich entdifferenzierten Verfassung seiner eigenen Subjektivität, ein Ende des Kriegs der Organe und Funktionen. Die weichtierähnliche Form des VTB verleugnet dessen funktionale Ausdifferenziertheit zugunsten einer phantasmatischen Beseeltheit mit Vitalenergie. Als animistisches Objekt beschwört es die nächtliche Reintegration der tagsüber durchlittenen funktionalen Ausdifferenzierung. Sollte das vollintegrierte Totalbett in sich einen Traum träumen, so wäre dies ein Traum von der Rücknahme jener Sorte von Arbeitsteilung, der es seinen monströsen Körper verdankt.





Mittwoch, 30. Oktober 2013

Das Endrohr


Man kennt diese mickrigen Abwindröhrchen, so dünn und kurz, daß sie sich kaum unterm Heck hervortraun, stattdessen schamgeplagt nach unten kringeln wie eingezogene Dackelschwänzchen, als könnten sie ihren garstigen Ausstoß lindern, wenn sie ihn abwärts lenken; rostig braun sind sie meist, um das ganze Verschmutzungsdrama gleich noch mal an sich selbst zur Darstellung zu bringen, nicht selten sieht man sie hängen und wackeln. Allzu oft sind sie an den lächerlichen und aus dem letzten Loch pfeifenden Kleinwagen jener ökologiebewegten Frauen angebracht, die mit ihrer verächtlichen, ja destruktiven Haltung gegenüber ihren Auspuffanlagen ihre Autofahrerei hinterher ungeschehen machen wollen... Pfui!


Dagegen steht: Das „Power-Endrohr“. Es steht „armdick“, lang und gerade  – und ist es krumm, dann krümmt es sich nach oben! Anstatt sich peinlich unterm Auto zu verstecken, tritt es lieber gleich doppelt, innen rot bemalt und außen metallisch spiegelnd hervor. Soll die Körpermetapher vollends stimmen, dann auch mal aus der Mitte. Man kann sein Rohr auch vergoldet bekommen für nur hundert Mark Aufpreis. In der Endschalldämpferszene schätzt man den gepflegten Abwindkanal.


Weniger schätzt man den TÜV, der für „Sportauspuffanlagen“ bloß zwei zusätzliche Dezibel an Lautstärke toleriert. Wie aber bringt dann „das bullige Endrohr mit dem Rallye-Sound die Gefühle auf Touren“? Laut Katalog „filtert der Soundeinsatz die hohen Frequenzen aus dem Klangbild der Auspuffanlage. Der typisch kernige, sonore Klang wird durch einen speziellen Dämpferendrohraufbau erzielt.“ Durch die unzähligen Varianten des „Hochleistungs-Endrohrs“ – in poliertem Edelstahl bis zu 1700 Mark – werden „die Abgase optimal abgeführt. Toller Sound und großes Rohr stehen nicht im Widerspruch zur Umwelt... Auspuffblenden lassen Ihr Heck glänzen, verdecken die Unansehnlichkeit Ihres alten Endrohres.“ Nur wer hinten durch eine bullig fette Röhre mit vergoldetem Endloch abstinkt, kann sich rundum restlos sauber fühlen.


Der beste Weg zu einem vollen, satten oder auch blubbernden Sound führt durch den Tunnel und wird mit heruntergekurbelten Scheiben zurückgelegt. Doch die „röhrenden PS-Hirsche“, so konstatierte einst der „Stern“, werden in der dunklen Zone unterm Auto doch ein wenig hinters Licht geführt: „Das Produktversprechen der Rückstauminderung ist so hohl wie der Auspuff selber“. Und wahrlich, bei der Lektüre der Sportauspuffwerbungen gewinnt man den Eindruck, die Erzeuger von Serienwagen hätten nichts anderes im Sinn, als die Motoren an der Entfaltung ihrer vollen Leistung zu hindern, indem sie die Endrohre unnötig verstopften: „Durch die Staudruckminimierung werden vom Sportauspuff bessere Durchzugswerte erreicht, die Ihnen die nötige Sicherheit bei Überholmanövern bringen“ (D&W-Katalog). Das verhält sich wohl eher umgekehrt – das Überholmanöver, optisch wie akustisch unterstrichen vom Doppelrohr, steigert die Selbstsicherheit des Fahrers, wobei dem Rohr „die Funktion des ausgestreckten Mittelfingers zukommt“, was den „Stern“ zu dem Befund veranlaßt: „Je dicker das Rohr, desto doofer der Fahrer“.


So kritisch wollen wir hier nicht sein, halten es lieber mit Salvador Dalí, der die Ansicht vertrat: „Es ist besser in Gesellschaft zu furzen als allein in der Ecke zu sterben“. Für den Blubbersound aus dem Abwindrohr gilt ungeschmälert, was einst ein Philosoph über den Furz sagte – dieser sei ein mißglückter Versuch, die Kehrseite zum Sprechen zu bringen. Das Endrohr ist das Saxophon des Automobilisten, eine moderne Form der Kunstfurzerei. Schließlich hatte schon Hippokrates den Furz für „den überschüssigen Geist der Welt“ gehalten. Wer mehr Wind um seine Existenz machen und seinen Dunstkreis erweitern will, dem bietet die Verknüpfung von Lärm und Gestank ein willkommenes Medium, seine Ichgrenze auszudehnen. Weil die Sitte das Furzen hemmt im Dienste geruchsfreier Kommunikation, bedarf man metallener Zweitkörper, um aufgestauten Gefühlen schuldlos Luft zu machen. Mittels Auspufftopf kann man Druck ablassen und den innersten Pressionen eines verkniffenen Pneuma den Weg zu positiver Resonanz bahnen.

Es ist der Rückstau der unartikulierten Selbstverlautung, der den Drang nach Entgrenzung weckt und beim Fahren dem entfahrenden sinnlosen Laut seinen Sinn verleiht. Im Echo der Furzprothese verschafft das komprimierte Innerste sich im Äußeren Geltung. Aus diesem Grund rät Dr. Pauser zum Kauf! 



(Erstveröffentlichung in DIE ZEIT, auch erschienen in meinem Buch "Dr. Pausers Autozubehör" / Hanser Verlag)




Freitag, 30. August 2013

Innovationen der Arbeitszeit


Der lange Abschied von der Stechuhr und die erstaunlich kurze Technikgeschichte der Arbeitszeitmessung

Zeit ist Geld. Kein Donald Duck Heft konnte je aufs Wiederholen dieses Satzes verzichten. Er war die Basis der Industriellen Revolution und ihr Sinnhorizont. Ein Glaubenssatz, der sich mit steigender Güterproduktion selbst zu bewahrheiten schien. Ihn wie ein Gebet zu wiederholen und zu verinnerlichen spendete Hoffnung für Generationen. Stellte in Aussicht, am künftigen Gewinn des Rationalisierungsprojekts Moderne irgendwie teilhaben zu können. Die Gesellschaft mittels Zeitdisziplin zur Arbeitsgesellschaft zu formen, war ein Heilsprojekt über Jahrhunderte.



Doch wie steht es heute um die Verknüpfung von Zeit und Geld? Das kulturelle Universum Donald Ducks ist in Auflösung begriffen. “Zeit ist Geld” gilt nicht mehr. Wir haben immer weniger Zeit und bekommen immer weniger Geld. Die Stechuhr wurde abmontiert, an ihre Stelle trat “das Projekt”. Es löst die traditionelle Kopplung der Bezahlung vom Zeitmaß der aufgewendeten Arbeit. Geld wert ist nur noch das Erreichen des Ziels. “Mach es zu deinem Projekt!” - mit deiner Zeit, mit der Energie deiner projizierten Wünsche, aber bitte nicht für unser Geld.

Kreativberufe und Wissensarbeiter sind die Avantgarde dieses Wandels, sind die Extremisten der Zeitverleugnung. “An die Zeit will ich bei diesem Projekt gar nicht denken!” – dieser Aufschrei durchtönt ihre Büros in größter Regelmäßigkeit, wenn auch als einzige Regelmäßigkeit inmitten dieser in nobler Zeitvergessenheit luxurierenden wie geschundenen Berufswelt. Fordert ein Kunde immer neue Gestaltungs-Varianten nach, fällt das kaum auf. Aus dem entgrenzten Zeitkontinuum der Selbstverwirklichung ist jene diskrete Einheit des Messbaren gewichen, mit der sich Anzahl noch in Zahlung übertragen ließe: die Arbeitsstunde. Sie wird nun gestaucht, bis sie ins “Arbeitspaket” passt.

Längst hat Projektarbeit sich über alle Branchen verteilt. “Projektmanager” ist der gefragteste Beruf. Ab einer gewissen Anzahl von Praktikanten und Prekariösen lohnt sich sogar dessen Fixanstellung. Das Wort “Überstunde” bekam  einen nostalgischen Klang. Es setzt jene Stunde voraus, in deren Maßzahl man schon deshalb nicht mehr rechnen kann, weil man jede Sekunde damit rechnen muss, vom Rechner unterbrochen zu werden. Die Stechuhr wurde von einer neuen Technologie überrundet. Mobiles Intenet im “always on” Modus greift jederzeit in Prozesse und Konzentrationen ein. Fordert Aufmerksamkeit, verlangt “interaktiv” Reaktion und zerteilt Zeit nicht mehr in regulierte Takte, sondern fährt irregulär und taktlos dazwischen.

Die eben skizzierten Veränderungen der Arbeitsorganisation werden meist aus politischen und ökonomischen Gründen abgeleitet: Von Neoliberalismus, Turbokapitalismus, Globalisierung und Entsolidarisierung einer Konkurrenzgesellschaft reden die Kritiker. Befürworter preisen den Ausstieg aus dem Zeitkorsett,  die gewonnene Freiheit autonomer Zeiteinteilung, die Rücksichtnahme auf persönliche körperliche und seelische Befindlichkeiten, den Zugewinn an Individualität, Verantwortung und Selbstbestimmung. Eigenzeit statt Zeitdiktat lautet das Versprechen des Arbeitsmarkts an die neuselbständige Ich-AG. Bei dieser handelt es sich um ein paradoxes Gebilde: eine Aktiengesellschaft ohne jedes Kapital, bei der das Ich übrig bleibt.

In der Nachkriegszeit wurde die Stechuhr eingeführt. Sie war nicht nur ein Instrument der Knechtung, sie fixierte auch jene Messeinheit der Arbeitsstunde, die zur Grundlage politischer Verhandlung und rechtlicher Regulierung wurde. Das in manchen Branchen bis heute fortgeführte Modell lebenslanger Fixanstellung, ausgestattet mit vielerlei rechtlichen Ansprüchen und geregelter Arbeitszeit, wurde schon in den 70er Jahren erstmals gelockert, als „mitarbeiterorientierte Gleitzeit“ kleine Freiheiten einräumte.

Eingeführt zur Motivation von Mitarbeitern in Zeiten der Vollbeschäftigung, wandelte sich ab den 80er Jahren mit wachsender Arbeitslosigkeit die Orientierung der „Flexiblen Arbeitszeitsysteme“: Nicht mehr den Angestellten, sondern primär dem Betrieb und seinen Kunden sollen diese nunmehr Vergünstigungen verschaffen. Der Funktionsverlust nationaler Grenzen setzt schließlich nicht nur Unternehmen einem globalen Wettbewerb mit Anbietern aus  „Billiglohnländern“ aus. Auch im jeweiligen Inland hat sich ein nicht territorialer Zweitmarkt gering bezahlter Arbeit etabliert, auf dem nicht Wohlfahrt, sondern Überleben zählt.

Weil nicht mehr das Verrichten von Arbeit ein knappes Gut ist, sondern die Gelegenheit, dafür Geld zu bekommen, stehen arbeitsrechtliche Errungenschaften unter Druck. Vom Markt her, aber auch seitens ihrer politischen und moralischen Selbstlegitimation. Die Fixierung der Umtauschverhältnisse zwischen Zeit und Geld hatte ursprünglich auf eine Verbesserung der finanziellen Lage der Ärmsten gezielt. Heute ist sie ein zufälliges Privileg älterer Arbeitnehmer, dessen Finanzierung auf dem Ausschluss der Nachkommenden beruht und von diesen nur noch als Ungerechtigkeit empfunden werden kann. Es zählt heute in Betrieben zur Norm, dass Menschen mit Überstundenbezahlung neben Menschen ohne Überstundenbezahlung am Schreibtisch sitzen. Mit Urlaubsanspruch, Weihnachtsgeld, Arbeitslosenversicherung – oder eben ohne. Wobei die besser ausgebildeten, motivierteren und mehr leistenden jungen Mitarbeier in der Regel ohne auskommen müssen.

Wer dieses neue Arbeitszeit-Regime ökonomischen Mächten und politischen Ideologien zuschreibt, übersieht die technischen Treiber der Globalisierung. Erst haben schnell und günstig verfügbare Verkehrsmittel alle territorial gebundenen Austauschverhältnisse geschwächt. Dann ist mit dem Internet die alte Korrelation von Raum und Zeit zusammen gebrochen. Mit dem mobilen Computing ist alles für jeden an jedem Ort und zu jeder Zeit verfügbar und bearbeitbar geworden. Gegen diese technisch induzierte Entgrenzung lassen sich tradierte Scheidungen von Arbeit und Freizeit, Selbst- und Fremdverwirklichung, Produktion und Konsum, Materiellem und Immateriellem, Autonomie und Anpassung, sportlichem und wirtschaftlichem Wettbewerb, Spiel und Pflicht nicht länger halten. Das Freizeit- und Konsumprodukt Handy unterscheidet sich von der Arbeitsmaschine Desktop nur noch im Außenmaß und Gewicht.

Arbeitszeit hat sich als differenzierende Größe aufgelöst. Spiegelbildlich ist es der Freizeit ergangen. Des Selbstverwirklichers liebste Beschäftigung ist schließlich jenes Erleben von Selbstwirksamkeit, das man einst „arbeiten“ nannte, als es noch richtige Arbeit gab. Die alte Ordnung des Hintereinander ist dem neuen Chaos des Gleichzeitigen gewichen. Situativ disponierbar sind Teilzeit, Gleitzeit, Schichtarbeit, Arbeitszeitkonto, Arbeit auf Abruf, Jahresarbeitszeitvertrag, Praktikum, Bildungskarenz, um nur einige zu nennen. „Zeit ist Geld“ gilt nur noch beim automatisierten „Trading“ der Finanzwirtschaft, wo Millisekunden zu Milliarden werden.

Warten müssen und unterbrochen werden sind die Komplikationen der neuen Zeitmaschine. Wer wollte für eine damit verbrachte Stunde noch Geld bezahlen? Zu Charlie Chaplins Sinnbild des an Uhrzeiger geketteten Menschen steht Cloudcomputing in schärfstem Kontrast. Der Takt wird nicht mehr in Sekunden, sondern in Megahertz gemessen, weit unter der Wahrnehmungsschwelle. Die mobile Dauerbegleitung des digitalen Arbeitsgeräts hat uns aus der Maschinenhalle und aus dem Zeitregime der Mechanik befreit. Die Geste des auf die Uhr Blickens ist seltener geworden. 

Fast könnte man meinen, der Mensch hätte zu jener Eigenzeit und Zeitautonomie zurück gefunden, die vor der Erfindung der Turmuhr selbstverständlich war.  Doch die Verkopplung unseres Lebens mit einer Zeit strukturierenden Maschine ist enger geworden. Auch wenn diese nicht mehr rhythmisch synchronisierend wie eine Galeere oder Dampfmaschine, sondern mit regellosen Aufenthalten und Zwischenkünften unser Kontinuum zerrüttet. Sobald das Handy sonntags piepst, merken wir, dass freie Zeit Arbeit auf Abruf ist.

Dieses Feuilleton ist erstmals in der Zeitschrift  konstruktiv  Nr. 288 erschienen. Die ungekürzte Version ist dort oder auf  scribd.com zugänglich. 


Ein Porsche ist ein nachhaltiges und kostengünstiges Produkt

Das von den österreichischen Architekten Delugan Meissl in Stuttgart erbaute Porsche-Museum inszeniert eine einzige Botschaft: Ein Porsche ist unsterblich! Von diesem Prinzip ausgenommen sind natürlich jene Wagen, die zu irreparablem Schrott gefahren wurden. Ist der Fahrer dabei gleich mit verstorben, kann man nicht mehr sagen, ihm sei sein Auto abhanden gekommen. Wahr ist jedenfalls, dass Porsches in der Regel nicht aus Altersgründen verschrottet werden. Es rentiert sich nämlich, sie zu restaurieren. Die meisten jemals gebauten Porsches, die keinen Totalcrash hatten, sind folglich noch auf den Straßen unterwegs. Wenn sie nicht, blankpoliert oder verstaubt, in wohlklimatisierten Garagen stehen. Wie zum Beispiel im Porsche-Museum.

Bildquelle: Delugan Meissl Website www.dmaa.at , Ausschnitt 








Die dekonstruktivistische Tempelanlage der automobilen Unsterblichkeit empfängt den Besucher im Eingangsbereich mit einer Restaurierwerkstätte. Hier erfährt man, dass alle im Museum gezeigten Wagen noch in Verwendung stehen. Das Museum leiht sie regelmäßig aus für Rennen und rituelle Ausfahrten. Nach ihrer Rückkehr werden sie wieder aufbereitet zum Idealzustand eines die Zeitlichkeit irdischer Existenz überdauernden musealen Objekts. Porsches sind als Museumsstücke tot und lebendig zugleich. Konsequent werden sie von den Architekten wie auf einem endlosen Band inszeniert, als wären sie auf einer Straße bloß mal zwischendurch geparkt. Der Weg zum Himmel ist mit Porsches gepflastert.

Wer bisher die Anschaffung eines solchen Autos für teuer hielt, wird hier eines Besseren belehrt. Im Angesicht der Ewigkeit schrumpft der Preis zum Schnäppchen. Und man beginnt, einen Porsche als Investitionsgut, wenn nicht als Sparschwein zu sehen. Man muss ihn deshalb ja nicht gleich rosa umlackieren.  Auch wer auf der Suche nach dem perfekten Öko-Auto ist, sollte nicht länger nach einem VW Polo schielen, sondern sich ruhig 200 PS mehr gönnen. Der höhere Benzinverbrauch wird von der Nachhaltigkeit des Wagens mehr als kompensiert!


Man muss eben nicht immer die Welt verbessern. Es genügt, sie bloß anders zu interpretieren.

Donnerstag, 29. August 2013

Innovationen der Grausamkeit: Die Post nimmt allen was


Innovation klingt gut in Konsumenten-Ohren. Weckt Hoffnung auf neue Funktionen, Produkte, Vorteile. Verspricht, dass Unternehmen danach streben, die Wünsche ihrer Kunden besser als bisher zu erfüllen. Doch es gibt auch Innovationen, mit denen sich Unternehmen Vorteile zum Schaden ihrer Kunden verschaffen. Als Konsument hasst man sie, als Innovationsmanager muss man sie anerkennen, wenn sie (im Rahmen der Gesetze) pfiffig sind…

Bildquelle: freepic.com /Ausschnitt 

Sprechen wir über die Österreichische Post. Sie ist als Ex-Staats-Monopolist neuerdings finanziell erfolgreich. Dass jeder Staatsbürger in gewissen Situationen um sie nicht herum kommt, nutzt sie aus, auf innovative Weise. Als Avantgarde einer Ökonomie der Grausamkeit.
Die Tradition des Beamtentums, Bittsteller zu schikanieren, könnte durchaus eingeflossen sein in die Entwicklung des neuen Geschäftsmodells. Der Umbau vom Amt zur „Serviceeinrichtung“ ging Schritt für Schritt. Zuerst wurde das Personal so sehr abgebaut, bis vor jedem Schalter lange Menschenschlangen warteten, täglich und zu jeder Uhrzeit. Um jede Aufmüpfigkeit des Konsumenten schon im Keim zu ersticken, wurde eine hochgradig innovative Demütigungs-Kampagne ersonnen: auf die Wandflächen hinter den nun stressgeplagt griesgrämigen Postbediensteten wurden lachende Gesichter von verkleideten Models als virtuelle Postbedienstete geklebt. Reales Personal wurde durch abgebildetes Personal ersetzt. Eine Innovation, ohne Zweifel.

Damals fragte man sich noch, während man in der Schlange wartete, ob die großformatigen  Gute-Laune-Gesichter die Kunden vielleicht beschwichtigen und bei Laune halten sollten. Ob es denn unbeabsichtigt sei, dass sowohl die Bediensteten als auch die Kunden sich von diesem Dauerlachen verhöhnt fühlen mussten. Fragte sich, warum mit diesem Kontrastprogramm des ab- und anwesenden Personals dessen reales Fehlen so überdeutlich hervor gestrichen werden musste?

Auch auf verbaler Ebene fuhr die Post eine Kompensations-Kampagne. „Die Post bringt allen was“, verkündete sie, während doch jedem Postkunden offenkundig war, dass die neue Post jedem was nimmt: Zeit nämlich, vor allem Arbeitszeit, die produktiver einsetzbar wäre als beim Schlange stehen im Postamt. Man sollte sich mal ausrechnen, wie hoch der volkswirtschaftliche Schaden in ganz Österreich ist, wenn in jedem Postamt ganztags mehrere Schlangen jedem Kunden 20 Minuten stehlen.

Seit heute weiß ich, dass die Demütigungskampagne nur Teil war einer langfristigen Strategie, die auf einen höchst innovativen Umbau des Geschäftsmodells zielte. Denn zum dritten Male innerhalb weniger Jahre wurde die Filiale umgestaltet. Erst rückte die BAWAG Bank herein. Ihr folgte ein Papier- und Büroartikel-Fachhandel. Dann kam der Handy-Anbieter A1 mit immer mehr Elektronik-Geräten im Schlepptau. Fernsehapparate, Bücher, Filme, Musik-CDs und nunmehr auch Tschibo-Eduscho mit Kaffee, Mode und Küchenutensilien runden die allumfassende Produktpalette des Universalversorgers Post ab.

Doch warum sollten die Menschen all diese Waren justament in der Schalterhalle eines Postamts erwerben wollen? An diesem Punkt zeigt sich erst die geniale Innovation in der Entwicklung des Geschäftsmodells: Anders als in Einkaufszentren und auf Shoppingmeilen bestimmt hier der Konsument die Geschwindigkeit seiner Schritte nicht selbst. Vielmehr wird er beim Schlange stehen in den kleinst möglichen Schritten an den Regalen vorbei geführt oder vor diesen fixiert. 

Die langfristige Einübung des Schlange Stehens, das dem westlichen Konsumenten sonst nur noch aus der Nachkriegs- oder Ostblock-Geschichte bekannt war, bringt nun Rendite. Zwangsaufenthalt vor vollen Regalen ist als Vermarktungsmodell ohne Beispiel. Der Clou dabei: je langsamer die Abfertigung an den Schaltern vor sich geht, um so länger stehen alle Kunden im unfreiwillig betretenen Supermarkt. Mit steigender Verzweiflung steigt auch der Impuls, sich durch einen Impulskauf von Unnötigem über die missliche Lage zu trösten.

Dieses Geschäftsmodell ist einzigartig, funktioniert nur bei teilprivatisierten Monopolisten und ist auf andere Branchen leider nicht übertragbar. Und doch muss man als Innovationsmanager den Hut ziehen vor der neuen Führung der Post. Wenn auch gespeist aus altem Ungeist, ist ihr eine Innovation im Vertriebsmodell gelungen, die genial ist und Gewinne schreibt. Als Innovationsmanager muss man das lieben. Als „Kunde“ darf man es trotzdem hassen.



Sonntag, 28. Juli 2013

Mega-Innovationen: Die Paradigmenwechsel der letzten Jahrzehnte, Teil II


Was waren die bedeutsamsten Innovationen, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unsere Entwicklung bestimmt haben? Die epochemachenden, die systemrelevanten, weltverändernden? Diejenigen, für die der Begriff „Paradigmenwechsel“ nicht eine Schuhnummer zu groß ist? Feuilletons thematisieren ja prinzipiell das Prinzipielle. Fürs Produkt-Feuilleton heißt das, die Innovation nicht nur in der Hardware zu suchen, sondern in jenen allgemeineren soziokulturellen Manövern, in deren Kontext neue Produkte allererst Sinn machen – wie etwa den, als Innovationen bezeichnet werden zu können. 



Schon in meinem Essay über die Fitnessmaschine  habe ich einen Paradigmenwechsel untersucht: die erste Maschine der Technikgeschichte, die das Hebelprinzip nicht zur Kraftersparnis einsetzt, sondern zur optimalen Erzeugung von Anstrengung, damit der von Technik entlastete Leib nicht verkümmere. Daran anknüpfend möchte ich nun nach weiteren Wendepunkten der Entwicklung suchen – und daraus eine Serie basteln.

Die aktuelle politische Erregung über die publik gewordenen Überwachungspraktiken des Internet durch Geheimdienste hat mich an eine Zeitungsmeldung aus den Pionierzeiten des WWW erinnert, die in meinem Tiefenspeicher hängen geblieben ist, weil sie eine bis dahin geltende Logik der Welt kippte. Kaum war das Internet geboren, wurde es auch schon zur Übermittlung pornographischer Inhalte verwendet. Dies rief Tugendwächter der amerikanischen Politik auf den Plan. Die wollten per Gesetz ein sexfreies Internet befehlen und durch lückenlose Überwachung des Datenverkehrs auch erzwingen. 

Auf die von diesem Ansinnen entfachte politische Debatte reagierte die Kultur der Programmierer und Hacker nicht etwa, indem sie sich für freien Datenverkehr und gegen Zensur engagierten. Ihnen fiel etwas Besseres ein. Sie begannen, das Wort „Sex“ (und allerlei andere einschlägige Suchbegriffe) in die Codes einzuprogrammieren. Auf der Ebene der Maschinensprache erzeugten sie automatisiert eine nahezu unendliche Inflationierung all jener Worte, auf die Zensur und Überwachung zielten. Noch bevor das Thema auf politischer Ebene ausdiskutiert war, verschwand es ganz still und heimlich von der Tagesordnung. Kein Politiker wollte sich mehr für ein Gesetz stark machen, dessen Durchsetzung bereits im Vorfeld als prinzipiell unmöglich erkannt worden war.

Ein kluger Schachzug! Ohne Zweifel eine methodische Innovation, die ihren Zweck erfüllte. Die sogar das freie Internet, wie wir es heute kennen, prägte und nicht unwesentlich zur Verbreitung dieser neuen Technologie (vor allem unter Männern…)  beitrug. Doch zugleich auch mehr: ein gedanklicher Lernschritt der Menschheit, die Funktionslogik dieses Mediums betreffend. Ähnlich wie der japanische Judo-Kämpfer seine Kraft nicht auf den Gegner richtet, sondern dessen Energie umlenkt, so dass sie sich schließlich gegen den Angreifer richtet und diesen zu Fall bringt, erkannte damals die Hacker-Community, dass die traditionelle Taktik, die eigene Meinung auf dem politischen Parkett den konservativen Politikern entgegen zuschleudern, viel Aufwand wäre, mit wenig Ergebnis. 

Sie beschloss, die prinzipielle Stoßrichtung jedes Kampfes umzukehren und statt zurückzuschlagen, die Energie des Gegners in einer Wüste der Übersexualisierung versanden zu lassen. Wenn auf jeder Website hunderte Male von Maschinen „Sex“ zu lesen ist, hat sich das Suchobjekt der Zensurbehörde in Luft aufgelöst. Wenn alles Sex ist, ist nichts mehr Sex.

Inflationierung wurde als mächtige Waffe in vernetzten Informations-Systemen erkannt. Und damit zugleich der Umkehrschluss (den manche Web-Marketing-Profis noch immer nicht verstanden haben) nahegelegt: In der bisher bekannten Welt war stets das Massenhafte das stärkere. Besonders die Industrialisierung hat ja so funktioniert, dass die größte Stückzahl den größten Erfolg brachte. Gegenüber diesem Prinzip war nun die Entdeckung, dass Informationswirtschaft einer umgekehrten Logik folgt, eine Innovation von jener Tragweite, die man mit Fug und Recht einen „Paradigmenwechsel“ nennen kann.

Informationstheoretiker definieren Information als Unwahrscheinlichkeit. Signifikant ist nicht das Massenhafte, sondern im Gegenteil, das möglichst Seltene. Ganz praktisch macht diese Erfahrung jeder bei der Google-Suche. Wer das Stichwort „Fußball“ eingibt, wird auf eine Weise übermäßig fündig, dass die Inflation der Ergebnisse deren Informationswert gegen Null senkt. Wer „Maniküreselbstverletzungsfetischismus“ (ja, das gibt es!) sucht, den macht die Suchmaschine glücklich. Weil sie funktioniert.

Was nicht funktioniert ist die Marketingstrategie, Massenprodukte im Internet über Massenkommunikationsinhalte ins Gespräch zu bringen. Was bisher auch nicht funktioniert, ist das Umdenken und Umschalten von der Funktionslogik der realen Massenproduktion zur umgekehrten Funktionslogik der digitalen Informationsproduktion. Marketingmanagern fällt das schwer. Weil es nur eines bedeuten kann: Viele verschiedene Unwahrscheinlichkeiten zu verstreuen, anstatt einer einzigen Information mittels Inflationierung ihre Unwahrscheinlichkeit zu nehmen und sie damit in eine Null-Information zu verwandeln.


Um dem amerikanischen Geheimdienst ein Schnippchen zu schlagen, sollten wir unsere Kommunikationsgewohnheiten ändern. In die Richtung, dass wir viel öfter als bisher fluchen. Nicht nur am Telefon, auch per Mail. Immer viele schlimme Dinge sagen, Fluchkultur entwickeln (Unterschichtzugehörige könnten Workshops anbieten und damit Karriere machen!). So schwer kann das Schimpfen nicht sein, gibt es doch genügend oft etwas, worüber man sich aufregen kann. Ist man zornig, formuliere man: „Ich explodiere gleich!“. Und Transporteure sollten sich nicht scheuen, klar auszusprechen, was sie gerade tun: „Bin Laden!“ 

Sonntag, 7. Juli 2013

Kollektive Innovation und Gestaltung

Teamarbeit macht klug. Teamarbeit macht blöd. Was macht den Unterschied?

Der Kapitalismus hat den Kollektivismus besiegt. Zumindest, soweit dieser sich hinter dem Eisernen Vorhang befunden hatte. Mittlerweile hat der Kollektivismus eine neue Heimat gefunden: das Büro. Im Herzen des Kapitalismus, der Firma, der Organisationsform, der Arbeitswelt hat er sich eingenistet. Und neue Namen bekommen. Flache Hierarchie, Lean Management, Teamwork, Projektarbeit, Open Source, e-Collaboration, Crowdsourcing, Partizipation, Selbstorganisation, Schwarmintelligenz und Open Innovation prägen das aktuelle, vielleicht auch nur das modische Bild des Produzierens.



Manche feiern diese Entwicklung als Demokratisierung und Aufwertung des Individuums. Andere mahnen, die Gewinne der Massenproduktion würden mit zunehmender Größe eines Unternehmens von dessen Verwandlung in einen basidemokratischen Debattierclub aufgezehrt.  Dort würden sinkende Reallöhne mit der Gelegenheit, sich in „Meetings“ wichtig zu machen, aufgewogen. So weit es um bloße Reproduktion geht, möge die Bilanz in dieser Frage von Betriebswirten gezogen werden, oder auch von stilistischer Präferenz. Bei Ingenieuren und Architekten jedoch steht die Neuproduktion zur Debatte. Hier als technische Innovation. Dort als baukünstlerisches Werk.

Ausgangspunkt des Neuen, und damit jeglicher Entwicklung, sei „der Mensch“, heißt es in gut humanistischer Tradition. Dies meinte die Figur eines bürgerlichen Individuums männlichen Geschlechts in der seltenen Sonderform des sogenannten Originalgenies. Im Reich der Technik trat dieses hervor als Erfinder. Dieser ist still und heimlich von der Weltbühne verschwunden. Technische Produktentwicklung findet im Teamwork statt. Nicht in der Garage, nicht im Dachbodenstübchen, sondern in großen Firmen. Diese schreiben sich auch im Fall des Gelingens den Erfolg auf die Fahnen. Die einfallsreichen Angestellten bleiben anonym und ohne weitere Rechte.

Mit dem Verschwinden der einsamen Heldenfiguren Erfinder und Architekt haben sich die Produktionsweisen der einst so verschiedenen Arbeitsfelder Technik und Baukunst einander angenähert.
Mit dem Verschwinden der einsamen Heldenfigur des Erfinders haben Kollektive das Innovieren übernommen. Gearbeitet wird nun in wechselnden Teams, zusammengestellt für einzelne Projekte. Weder despotische Chefs noch autoritäre Abteilungsleiter machen Vorschriften, sondern meist sehr junge „Projektmanagerinnen“ stimmen Arbeitspakete ab, laden ein zu Meetings, vereinbaren Prozesse und Timelines, moderieren Debatten und beschwichtigen Konflikte, motivieren zum Durchhalten und erinnern die Mitglieder der Teams an nahende Abgabetermine. Bloßes Ausführen ist nur noch das Schicksal der Praktikanten. Und da deren Tätigkeit nicht bezahlt wird, braucht man sie auch nicht mehr unter Arbeit subsumieren. Arbeit im engeren Sinne erfolgt selbstgesteuert, zumindestens dem Anschein nach. Pflicht ist nur, per Du zu sein und sich im Habitus privat, relaxed, gutgelaunt und im sportlichen Sinne leistungslustig zu präsentieren. Die Bereitschaft dazu schreibt man mit dem Wort „teamfähig“ in den Lebenslauf.

Nicht nur die Arbeitsweise in partizipativen Projektteams verbindet nun Ingenieurs- und Architekturbüros, sondern auch die daraus entstehende Seit partizipative Projektteams das Entwickeln vorantreiben, ist die Notwendigkeit entstanden, die verloren gegangene Erfinderpersönlichkeit durch eine Marke zu ersetzen. Das Publikum, Medien wie Märkte, dulden nämlich die neue Autorlosigkeit innovativer Hervorbringungen keineswegs. Für deren Außensicht muss daher eine fiktive Persönlichkeit eigens konstruiert und werblich kommuniziert werden. Die Firma entzieht als juristische Person schon im Arbeitsvertrag ihren Mitarbeitern alle Rechte an deren Ideen, um diese gebündelt für sich zu verwerten. Dieser Verlust an  Autorschaft geht jedoch Hand in Hand mit einer verstärkten Wiederkehr des Mythos vom singulären Urheber dort, wo es um die Propaganda der „Markenpersönlichkeit“ geht.

Die Urheberschaft, eben erst zu Grabe getragen von allerlei Begeisterungen fürs Demokratische, Kollektive und Egalitäre, wird sogleich wieder exhumiert und als geschminkte Leiche auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten zur Schau gestellt, um für das Produkt und die Verwertungsrechte daran den Mehrwert eines Markenprodukts zu lukrieren. Gleichzeitig entwickeln sich Urheber- und Patentschutz in entgegengesetzte Richtungen. Von Amerika aus verbreitet sich die Tendenz, den Begriff des Patents auszuweiten. Was bisher dem spezifisch technischen Effekt vorbehalten war, soll nun vermehrt auch Geschäftsmodellen, runden Ecken und Pflanzensamen als Schutz vor Nachahmung zur Verfügung stehen.

Die gegenteilige Tendenz ist in der Entwicklung des Urheberrechts an künstlerischen Werken – wie etwa an den Gestaltungen des Designers - zu beobachten. Im Internet hat sich eine spezielle Kultur und rechtspolitische Überzeugung entwickelt, die am liebsten jede schöpferische gestalterische Leistung als Gemeingut gratis zur Verfügung gestellt sehen will. Genährt wird diese Bewegung zur Abschaffung des Urheberrechts von der Funktionslogik des Computers, einer Kopiermaschine, die, wie manche meinen, Kopierschutz prinzipiell technisch unmöglich macht.

Nicht nur das rechtliche, auch das ideologische Chaos ist nach dem „Tod des Autors“ und seinem Wiederaufleben als geschützte Marke beträchtlich. Die Begründungen, warum an eine innovative Hervorbringung Rechte geknüpft sein sollen oder nicht, folgen nicht der Logik, sondern der Machtposition auf dem politischen und ökonomischen Feld. Waffengleichheit ist zwischen Saatgutkonzernen und Musikern nicht gegeben.

Doch wie gut funktioniert sie, was leistet sie, die anonym im Team erschaffene Innovation?  Sind zehn Köpfe klüger als einer, oder verderben viele Köche den Brei? Erst kürzlich konnte ich an zwei Kreativ-Workshops teilnehmen. Im ersten ging es um die Entwicklung einer Marke, im zweiten um technische Produktentwicklung. Die Effekte der Teamarbeit auf die Qualität des jeweiligen Ergebnisses könnten verschiedener nicht sein.

Ein Schweizer Markenberater lud mich zu einem Workshop ein. Dort versammelten sich die Top-Manager des auftraggebenden Unternehmens, Branding-Experten und Kreative. Ein Moderator führte durch den Prozess. Er stellte Fragen nach der Identität, nach Eigenschaften, Zielen, Märkten und Qualitäten, sowohl des Produkts als auch des Unternehmens. Im Brainstorming schrieben die Teilnehmer ihre Antworten in Form einzelner Worte auf Kärtchen. Diese wurden an die Wand gepinnt und in einer zweiten Runde gemeinsam evaluiert. Jede Stimme, jeder Einfall zählte gleich viel, ausgewählt wurde demokratisch. Zumindest in den ersten Runden. Das letzte Wort hatte der Boss.

Obwohl durchwegs intelligente Menschen involviert sind, scheint das Verfahren geradezu dafür angelegt, Nonsens zu produzieren. Schon beim Brainstorming wird niemandem länger als 20 Sekunden Zeit zum Nachdenken gewährt, wie um die Wette purzeln die ersten Einfälle hervor. Es sind die häufigsten in Medien kolportieren Klischees zum Thema. Wie könnte es anders sein? Manager zeigen sofort eine kindische Lust daran, zwei Stunden lang „Werber“ spielen zu dürfen. Und sich selbst zu beweisen, dass sie Sprüche von der Sorte, die sie täglich in der Werbung hören, auch selbst „creativ“ hervorzubringen imstande sind. Ausgewählt wird dann, was in dem Sinne „toll klingt“, dass es genau wie die Werbung aller anderen Marktteilnehmer klingt.

Aus geschäftlichen Gründen tut jede Brandingagentur gut daran, ihrem Kunden die Euphorie beim Wettlauf ums schärfste Eigenlob nicht zu vermiesen. Ist es dem Moderator gelungen, Konsens über jene  „Markenattribute“ und „Begeisterungseigenschaften“ herzustellen, die künftig die „Markenpersönlichkeit“ charakterisieren sollen,  bleibt ihm noch die schwierige Aufgabe, die immer gleichen Klischeeworte (kundenorientiert, nachhaltig, motiviert, wachstumsorientiert, leidenschaftlich, modern...) so zusammen zu montieren, dass sich Aussagen formulieren lassen, die zumindest im Moment der Abnahme durch den Kunden diesem als einleuchtend erscheinen. So entstehen Dokumente, die niemand verstehen kann, der bei den Workshops nicht mit dabei war. Am Ende wird ein Logo gestaltet, von dessen beliebiger Form behauptet wird, sie sei „die Umsetzung“ der erarbeiteten Markenpersönlichkeit.

Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der Kürze des Wegs zur Konsensbildung. Für zerstrittene Führungsetagen ein wahrer Segen! Die Schwäche liegt darin, dass nur der kleinste gemeinsame Nenner aller Gedanken das Rennen macht. Dieses läppische Ergebnis kann jeder überprüfen, der sich die Mühe macht, im Internet die Mission-Statements und Markenphilosophien großer Unternehmen zu vergleichen: Man liest in tausend schlechten Formulierungen den immer gleichen Text. Einen Text, dessen einzige Funktion es ist, vom Mitbewerb unterscheidbar zu machen.

Geschockt vom Erlebnis dieser planmäßigen Verblödung mittels Teamarbeit reiste ich, den Koffer voller Vorurteile, zu einem Kreativworkshop von LEAD Innovations, der den Prinzipien von „Open Innovation“, insbesondere die „LEAD User Methode“ folgt. Bei dieser werden Kunden gesucht, die das Produkt des Auftraggebers aus eigener Initiative abändern, ergänzen oder weiter entwickeln. Bastler, Tüftler, Hobbyerfinder ebenso wie Entwickler aus vergleichbaren Technikgebieten. Vertreter des Auftraggebers sind in der Minderzahl. Das Brainstorming erfolgt in kleinen Runden, deren Teilnehmer nach jeweils 20 Minuten ausgewechselt werden. Die Fragestellungen werden von Team zu Team weiter gereicht und weiter bearbeitet. Nach zwei Tagen waren 5 innovative Produkte entwickelt und in ihren Marktchancen evaluiert. Das Teamwork hatte funktioniert! Besser, als jeder Einzelne, besser auch als jedes Team innerhalb einer Organisation.

Offenbar ist die bei Ameisen und Bienen entdeckte Schwarmintelligenz nicht umstandslos auf Menschen übertragbar. Die Innovationskraft von Köpfen wächst keineswegs automatisch mit ihrer Zahl. Auch wenn Neuronen einzeln dumm, und erst verschaltet intelligent sind, ist daraus nicht zu folgern, dass man zum „Superbrain“ gelangt, bloß weil man Menschen zusammenarbeiten lässt.

Bei technischen Aufgaben funktioniert Open Innovation, weil jeder Einzelbeitrag vom Team sofort und vollständig rational nachvollziehbar ist. Weil die Komplexität zwar hoch, aber doch endlich und in Komponenten zerlegbar ist. Wesentlich zum Erfolg trägt auch das Fehlen sozialer und ökonomischer Beziehungen zwischen den Teilnehmern bei.

Der Branding-Workshop hingegen scheiterte nicht nur an den sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren, sondern primär, weil die Erzeugung von neuem Sinn nur von Menschengehirnen leistbar ist. Ein solches Hirn muss dann auch nachdenken dürfen, ohne in dieser seiner Spezialkompetenz von anderen systematisch behindert zu werden.

Mein Fazit aus den beiden Workshop-Erlebnissen ist paradox: Teamwork wurde erfunden, um das Arbeiten menschlicher und sozialer zu machen. Seine besten Ergebnisse bringt es, wenn man Gruppendynamik unterbindet und die Teammitglieder voneinander isoliert.

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Kurzfassung des Essays „Teamarbeit macht klug. Teamarbeit macht blöd. Was macht den Unterschied?“ aus dem Themenheft „Werk ohne Autor“ der Zeitschrift Konstruktiv Nr. 289, Wien 2013. Originalfassung: www.das-konstruktiv.at und http://de.scribd.com/doc/150559102/Kollektive-Innovation