Was waren die bedeutsamsten Innovationen, die seit der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unsere Entwicklung bestimmt haben? Die
epochemachenden, die systemrelevanten, weltverändernden? Diejenigen, für die
der Begriff „Paradigmenwechsel“ nicht eine Schuhnummer zu groß ist? Feuilletons
thematisieren ja prinzipiell das Prinzipielle. Fürs Produkt-Feuilleton heißt
das, die Innovation nicht nur in der Hardware zu suchen, sondern in jenen
allgemeineren soziokulturellen Manövern, in deren Kontext neue Produkte allererst
Sinn machen – wie etwa den, als Innovationen bezeichnet werden zu können.
Schon
in meinem Essay über die Fitnessmaschine habe ich einen
Paradigmenwechsel untersucht: die erste Maschine der Technikgeschichte, die das
Hebelprinzip nicht zur Kraftersparnis einsetzt, sondern zur optimalen Erzeugung
von Anstrengung, damit der von Technik entlastete Leib nicht verkümmere. Daran
anknüpfend möchte ich nun nach weiteren Wendepunkten der Entwicklung suchen –
und daraus eine Serie basteln.
Die aktuelle politische Erregung über die publik gewordenen
Überwachungspraktiken des Internet durch Geheimdienste hat mich an eine
Zeitungsmeldung aus den Pionierzeiten des WWW erinnert, die in meinem
Tiefenspeicher hängen geblieben ist, weil sie eine bis dahin geltende Logik der
Welt kippte. Kaum war das Internet geboren, wurde es auch schon zur
Übermittlung pornographischer Inhalte verwendet. Dies rief Tugendwächter der
amerikanischen Politik auf den Plan. Die wollten per Gesetz ein sexfreies
Internet befehlen und durch lückenlose Überwachung des Datenverkehrs auch
erzwingen.
Auf die von diesem Ansinnen entfachte politische Debatte reagierte
die Kultur der Programmierer und Hacker nicht etwa, indem sie sich für freien
Datenverkehr und gegen Zensur engagierten. Ihnen fiel etwas Besseres ein. Sie
begannen, das Wort „Sex“ (und allerlei andere einschlägige Suchbegriffe) in die
Codes einzuprogrammieren. Auf der Ebene der Maschinensprache erzeugten sie
automatisiert eine nahezu unendliche Inflationierung all jener Worte, auf die
Zensur und Überwachung zielten. Noch bevor das Thema auf politischer Ebene
ausdiskutiert war, verschwand es ganz still und heimlich von der Tagesordnung.
Kein Politiker wollte sich mehr für ein Gesetz stark machen, dessen Durchsetzung
bereits im Vorfeld als prinzipiell unmöglich erkannt worden war.
Ein kluger Schachzug! Ohne Zweifel eine methodische
Innovation, die ihren Zweck erfüllte. Die sogar das freie Internet, wie wir es
heute kennen, prägte und nicht unwesentlich zur Verbreitung dieser neuen
Technologie (vor allem unter Männern…) beitrug.
Doch zugleich auch mehr: ein gedanklicher Lernschritt der Menschheit, die
Funktionslogik dieses Mediums betreffend. Ähnlich wie der japanische
Judo-Kämpfer seine Kraft nicht auf den Gegner richtet, sondern dessen Energie
umlenkt, so dass sie sich schließlich gegen den Angreifer richtet und diesen zu
Fall bringt, erkannte damals die Hacker-Community, dass die traditionelle
Taktik, die eigene Meinung auf dem politischen Parkett den konservativen
Politikern entgegen zuschleudern, viel Aufwand wäre, mit wenig Ergebnis.
Sie
beschloss, die prinzipielle Stoßrichtung jedes Kampfes umzukehren und statt
zurückzuschlagen, die Energie des Gegners in einer Wüste der Übersexualisierung
versanden zu lassen. Wenn auf jeder Website hunderte Male von Maschinen „Sex“
zu lesen ist, hat sich das Suchobjekt der Zensurbehörde in Luft aufgelöst. Wenn
alles Sex ist, ist nichts mehr Sex.
Inflationierung wurde als mächtige Waffe in vernetzten
Informations-Systemen erkannt. Und damit zugleich der Umkehrschluss (den manche
Web-Marketing-Profis noch immer nicht verstanden haben) nahegelegt: In der
bisher bekannten Welt war stets das Massenhafte das stärkere. Besonders die
Industrialisierung hat ja so funktioniert, dass die größte Stückzahl den
größten Erfolg brachte. Gegenüber diesem Prinzip war nun die Entdeckung, dass
Informationswirtschaft einer umgekehrten Logik folgt, eine Innovation von jener
Tragweite, die man mit Fug und Recht einen „Paradigmenwechsel“ nennen kann.
Informationstheoretiker definieren Information als
Unwahrscheinlichkeit. Signifikant ist nicht das Massenhafte, sondern im
Gegenteil, das möglichst Seltene. Ganz praktisch macht diese Erfahrung jeder
bei der Google-Suche. Wer das Stichwort „Fußball“ eingibt, wird auf eine Weise
übermäßig fündig, dass die Inflation der Ergebnisse deren Informationswert gegen
Null senkt. Wer „Maniküreselbstverletzungsfetischismus“ (ja, das gibt es!)
sucht, den macht die Suchmaschine glücklich. Weil sie funktioniert.
Was nicht funktioniert ist die Marketingstrategie,
Massenprodukte im Internet über Massenkommunikationsinhalte ins Gespräch zu
bringen. Was bisher auch nicht funktioniert, ist das Umdenken und Umschalten
von der Funktionslogik der realen Massenproduktion zur umgekehrten
Funktionslogik der digitalen Informationsproduktion. Marketingmanagern fällt
das schwer. Weil es nur eines bedeuten kann: Viele verschiedene
Unwahrscheinlichkeiten zu verstreuen, anstatt einer einzigen Information mittels
Inflationierung ihre Unwahrscheinlichkeit zu nehmen und sie damit in eine
Null-Information zu verwandeln.
Um dem amerikanischen Geheimdienst ein Schnippchen zu
schlagen, sollten wir unsere Kommunikationsgewohnheiten ändern. In die
Richtung, dass wir viel öfter als bisher fluchen. Nicht nur am Telefon, auch
per Mail. Immer viele schlimme Dinge sagen, Fluchkultur entwickeln
(Unterschichtzugehörige könnten Workshops anbieten und damit Karriere machen!).
So schwer kann das Schimpfen nicht sein, gibt es doch genügend oft etwas,
worüber man sich aufregen kann. Ist man zornig, formuliere man: „Ich explodiere
gleich!“. Und Transporteure sollten sich nicht scheuen, klar auszusprechen, was
sie gerade tun: „Bin Laden!“