Sonntag, 28. Juli 2013

Mega-Innovationen: Die Paradigmenwechsel der letzten Jahrzehnte, Teil II


Was waren die bedeutsamsten Innovationen, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unsere Entwicklung bestimmt haben? Die epochemachenden, die systemrelevanten, weltverändernden? Diejenigen, für die der Begriff „Paradigmenwechsel“ nicht eine Schuhnummer zu groß ist? Feuilletons thematisieren ja prinzipiell das Prinzipielle. Fürs Produkt-Feuilleton heißt das, die Innovation nicht nur in der Hardware zu suchen, sondern in jenen allgemeineren soziokulturellen Manövern, in deren Kontext neue Produkte allererst Sinn machen – wie etwa den, als Innovationen bezeichnet werden zu können. 



Schon in meinem Essay über die Fitnessmaschine  habe ich einen Paradigmenwechsel untersucht: die erste Maschine der Technikgeschichte, die das Hebelprinzip nicht zur Kraftersparnis einsetzt, sondern zur optimalen Erzeugung von Anstrengung, damit der von Technik entlastete Leib nicht verkümmere. Daran anknüpfend möchte ich nun nach weiteren Wendepunkten der Entwicklung suchen – und daraus eine Serie basteln.

Die aktuelle politische Erregung über die publik gewordenen Überwachungspraktiken des Internet durch Geheimdienste hat mich an eine Zeitungsmeldung aus den Pionierzeiten des WWW erinnert, die in meinem Tiefenspeicher hängen geblieben ist, weil sie eine bis dahin geltende Logik der Welt kippte. Kaum war das Internet geboren, wurde es auch schon zur Übermittlung pornographischer Inhalte verwendet. Dies rief Tugendwächter der amerikanischen Politik auf den Plan. Die wollten per Gesetz ein sexfreies Internet befehlen und durch lückenlose Überwachung des Datenverkehrs auch erzwingen. 

Auf die von diesem Ansinnen entfachte politische Debatte reagierte die Kultur der Programmierer und Hacker nicht etwa, indem sie sich für freien Datenverkehr und gegen Zensur engagierten. Ihnen fiel etwas Besseres ein. Sie begannen, das Wort „Sex“ (und allerlei andere einschlägige Suchbegriffe) in die Codes einzuprogrammieren. Auf der Ebene der Maschinensprache erzeugten sie automatisiert eine nahezu unendliche Inflationierung all jener Worte, auf die Zensur und Überwachung zielten. Noch bevor das Thema auf politischer Ebene ausdiskutiert war, verschwand es ganz still und heimlich von der Tagesordnung. Kein Politiker wollte sich mehr für ein Gesetz stark machen, dessen Durchsetzung bereits im Vorfeld als prinzipiell unmöglich erkannt worden war.

Ein kluger Schachzug! Ohne Zweifel eine methodische Innovation, die ihren Zweck erfüllte. Die sogar das freie Internet, wie wir es heute kennen, prägte und nicht unwesentlich zur Verbreitung dieser neuen Technologie (vor allem unter Männern…)  beitrug. Doch zugleich auch mehr: ein gedanklicher Lernschritt der Menschheit, die Funktionslogik dieses Mediums betreffend. Ähnlich wie der japanische Judo-Kämpfer seine Kraft nicht auf den Gegner richtet, sondern dessen Energie umlenkt, so dass sie sich schließlich gegen den Angreifer richtet und diesen zu Fall bringt, erkannte damals die Hacker-Community, dass die traditionelle Taktik, die eigene Meinung auf dem politischen Parkett den konservativen Politikern entgegen zuschleudern, viel Aufwand wäre, mit wenig Ergebnis. 

Sie beschloss, die prinzipielle Stoßrichtung jedes Kampfes umzukehren und statt zurückzuschlagen, die Energie des Gegners in einer Wüste der Übersexualisierung versanden zu lassen. Wenn auf jeder Website hunderte Male von Maschinen „Sex“ zu lesen ist, hat sich das Suchobjekt der Zensurbehörde in Luft aufgelöst. Wenn alles Sex ist, ist nichts mehr Sex.

Inflationierung wurde als mächtige Waffe in vernetzten Informations-Systemen erkannt. Und damit zugleich der Umkehrschluss (den manche Web-Marketing-Profis noch immer nicht verstanden haben) nahegelegt: In der bisher bekannten Welt war stets das Massenhafte das stärkere. Besonders die Industrialisierung hat ja so funktioniert, dass die größte Stückzahl den größten Erfolg brachte. Gegenüber diesem Prinzip war nun die Entdeckung, dass Informationswirtschaft einer umgekehrten Logik folgt, eine Innovation von jener Tragweite, die man mit Fug und Recht einen „Paradigmenwechsel“ nennen kann.

Informationstheoretiker definieren Information als Unwahrscheinlichkeit. Signifikant ist nicht das Massenhafte, sondern im Gegenteil, das möglichst Seltene. Ganz praktisch macht diese Erfahrung jeder bei der Google-Suche. Wer das Stichwort „Fußball“ eingibt, wird auf eine Weise übermäßig fündig, dass die Inflation der Ergebnisse deren Informationswert gegen Null senkt. Wer „Maniküreselbstverletzungsfetischismus“ (ja, das gibt es!) sucht, den macht die Suchmaschine glücklich. Weil sie funktioniert.

Was nicht funktioniert ist die Marketingstrategie, Massenprodukte im Internet über Massenkommunikationsinhalte ins Gespräch zu bringen. Was bisher auch nicht funktioniert, ist das Umdenken und Umschalten von der Funktionslogik der realen Massenproduktion zur umgekehrten Funktionslogik der digitalen Informationsproduktion. Marketingmanagern fällt das schwer. Weil es nur eines bedeuten kann: Viele verschiedene Unwahrscheinlichkeiten zu verstreuen, anstatt einer einzigen Information mittels Inflationierung ihre Unwahrscheinlichkeit zu nehmen und sie damit in eine Null-Information zu verwandeln.


Um dem amerikanischen Geheimdienst ein Schnippchen zu schlagen, sollten wir unsere Kommunikationsgewohnheiten ändern. In die Richtung, dass wir viel öfter als bisher fluchen. Nicht nur am Telefon, auch per Mail. Immer viele schlimme Dinge sagen, Fluchkultur entwickeln (Unterschichtzugehörige könnten Workshops anbieten und damit Karriere machen!). So schwer kann das Schimpfen nicht sein, gibt es doch genügend oft etwas, worüber man sich aufregen kann. Ist man zornig, formuliere man: „Ich explodiere gleich!“. Und Transporteure sollten sich nicht scheuen, klar auszusprechen, was sie gerade tun: „Bin Laden!“ 

Keine Kommentare :

Kommentar veröffentlichen