Dienstag, 22. September 2015

Das Rohr



Am Anfang war das Rohr: Vom Baukörper zum Körperbau und retour



Das Rohr ist ein fensterloser Rundbau, der steht oder liegt und weder über Keller noch Dach verfügt. Liegt es, so ist es ein Gang.


Diese Betrachtungsweise ist natürlich grundfalsch. Nur in Kriminalfilmen kriechen Räuber durch Rohre, und Polizisten hinterdrein. Menschenrohre sind außerhalb der U-Bahnen rechteckig gehalten, damit wir uns nicht wie Fuchs und Dachs vorkommen. Gänge gebärden sich rechteckig als Architekturen, um ihren Rohr-Charakter zu dementieren. Sie inszenieren den aufrechten Gang, der Würde halber. Wir wollen schließlich weder rund noch flüssig sein, und Maulwürfe schon gar nicht.


Ein Bauwerk ist ein durchlöchertes kantiges Rohr, das seinerseits zu einem großen Teil aus Rohren besteht und in sich weitere Röhren bildet. Auch diese Betrachtung ist falsch. Hat nicht der Mensch die Höhlen und Erdlöcher vor Jahrtausenden verlassen, um alles Röhrenhafte seiner Existenz hinter und unter sich zu lassen und der durch und durch rundlichen rohrartigen Natur die rechtwinkelige und damit geistigere Architektur entgegen zu setzen? War Architektur nicht initial der Name des Menschheits-Projekts, sich vom Rohrwesen zu emanzipieren? Warum sonst kam Architektur so lange ohne Rohre aus?


Aus einem Rohr kommst du, und in einem Schacht wirst du enden, das ist dein Menschenschicksal. Zwischendurch wirst du selbst ein Rohr sein, das aus tausenden Rohren besteht. Der Blutkreislauf ist noch der vornehmste Kandidat, um hier als Rohrleitungssystem benannt zu werden. Der Mensch ist zwar das einzige Schlauchsystem, das über diese Tatsache reflektieren kann, aber auch das einzige, das davon nichts wissen will. „Gesundheit ist das Schweigen der Organe“, hieß es einst, bevor die Wellness-Idee auch Gesunde davon überzeugte, heilender Mittel zu bedürfen. Man könnte vom Schweigen der inneren Rohre sprechen, wenn man die Bedingung des menschlichen Selbstbewusstseins zu beschreiben versucht. „Ich denke, also bin ich“, dieser Satz gilt nur, wenn ich die Rohre gerade vergessen kann, auf deren flüssigem, staufreiem Funktionieren die Selbstidentifikation als freies Geistwesen aufruht. Bewusstsein könnte man somit auch „Rohrvergessenheit“ nennen. Der Mensch ist eine dichte Packung aus Rohrsystemen, mit der Besonderheit, dies zwanghaft dementieren, verdecken, vergessen, übergehen und übersehen zu müssen. Kleidungsvorschriften sind für jene Körperstellen die verbindlichsten, an denen das Röhrenwesen erkennbar würde. Wo, wie beim Mund, verdecken nicht tunlich wäre, hilft die Sitte, diesen nicht als Schlund erscheinen zu lassen, etwa, indem man sich beim Gähnen die Hand davor hält und Servietten benützt, wenn die Passage der Speisen ins Verdauungs-Rohr-System nicht spurlos funktioniert.


Kultur ist eine große Rohr-Dementi-Veranstaltung. Diese ist auch nötig, wissen wir doch aus der Naturkunde, dass die Entstehungsgeschichte aller komplexeren Lebewesen mit der ersten Rohrbildung in Gang kam. Am Anfang war das Rohr. Ein Klumpen Einzeller entdeckte den Überlebensvorteil eines leeren Zentrums. Mit der ersten Einstülpung wurde ein Nichts zum Etwas, wenn es nur innen lag – im Inneren eines Äußeren. Welch eine Abstraktionsleistung! Ein Wesen wird man, in dem man in sich Etwas und Nichts zu unterscheiden und zu trennen lernt. Das Nichts im Kern des Rohres ist keine bloße Abwesenheit, sondern eine geplante potentielle Anwesenheit. Mit der Rohrform entsteht die Möglichkeitsform, Zukunftsplanung und Steuerungssysteme sind bereits implizit mitgedacht. Etwas, das Inneres von Äußerem zu unterscheiden vermag, nennt man System. Mit der Rohrform war das Prinzip der Differenzierung erfunden, es brauchte nur noch immer weiter auf sich selbst angewandt zu werden. Die Evolution ist das sukzessive Einstülpen und Ausstülpen von Schläuchen aus sich selbst. Und weil jeder Embryo die gesamte Evolutionsgeschichte Schritt für Schritt wiederholt, entstammt jeder erwachsene Mensch nicht nur Rohren, er war auch selbst einmal ganz und gar Rohr, bevor er sich in tausende Rohre teilte.


Ich bin ganz Rohr. Gerade deshalb möchte ich davon nichts wissen. Nichts sehen, hören, spüren und schon gar nichts riechen. Was hilft mir aus dieser Not? Richtig: Das Rohr! Seine Geschlossenheit ermöglicht es, Phänomene der Welt unbemerkbar anwesend zu machen. Das Rohr verschließt, ohne Transport zu verhindern – im Gegenteil, es bahnt, hält weg und hält bereit. Als Verschlussarchitektur lehrt es uns auch gleich, was wir damit machen wollen: es wegschließen und unmerklich machen.


Obwohl das Rohr eine so großartige Erfindung ist, die es verdient hätte, vorgezeigt zu werden und in auffälliger Weise an allen Wänden in Augenhöhe außen montiert zu werden, übertragen wir doch die Kultur der Scham auf die Architektur und lassen die Rohre im Baukörper verschwinden. Damit erst ist die Körpermetapher komplett realisiert: Das aus dem Körper funktional ausgewanderte Rohr wandert in den Baukörper ein, um sich der Wahrnehmbarkeit zu entziehen. In schärfstem Gegensatz zur funktionalistischen Idee der Moderne ist der mit immer mehr Röhrensystemen durchzogene Bau der Gegenwart eine groß angelegte Rohr-Verdeckungs-Inszenierung.


Nichts von dem, was wir in heutigen Gebäuden Wand, Boden oder Decke nennen, verdient noch diesen Namen. Wir gehen auf doppeltem Boden, lehnen uns an die seitliche Verblendung oder Verschalung der Leitungszwischenräume, während über uns die Decke abhängt. Der Innenraum wurde zur Bühnen-Inszenierung eines gebauten Raums, hinter dessen dünnen Kulissen die Versorgungsstränge liegen und laufen. Moderne Architektur ist Blendwerk im Dienste der Rohrverschwindens. Was im Rohr ist, ist doppelt verschwunden. Im Rohr, und in der „Wand“.


Das Ideal des rohrvergessenen Menschen spiegelt sich in der rohrverdeckenden Architektur.


Architektur ist der Name der großen Rohrverschwindensinszenierung außerhalb des Menschenkörpers, sie gehört damit zum noch größeren Verblendungs-Zusammenhang Kultur.


Die Kompetenz des Rohrs, bewegtes Anwesendes so der Wahrnehmung zu entziehen, dass potentielle Anwesenheit bei scheinbarer Abwesenheit entsteht (etwa des Wassers in der Leitung), gehört zu den zentralsten Kulturtechniken des Menschen. Die Unmerklichkeit des Rohrtransports ermöglicht es der Aufmerksamkeit, sich auf abstraktere Gegenstände und Vorgänge zu lenken und auf Gewolltes wie Gestaltetes zu konzentrieren. Rohre entlasten nicht nur von Wegen, sondern auch von Wahrnehmungen. Damit befreien sie die Wahrnehmung für Bewusstes, Schönes und Erwünschtes.


Der Beitrag des Rohrs zur Kultur, Architektur und Geistigkeit liegt im doppelten Verschwinden, das alles Liquide aus der Weltwahrnehmung bringt und schließlich das Rohr selbst in die Wand versenkt.


Das Rohr brilliert mit Unsichtbarkeit. Wir schätzen an ihm den Entzug unerwünschter Erfahrungen, die Kompetenz für den Schein des Verschwundenseins. Nur im Rohr und in Medien kann etwas zugleich anwesend und abwesend sein. Und obwohl das Rohr selbst kein Medium ist, ermöglicht es doch eine Ausfilterung störender Wahrnehmungen. Infolge dieser Ausfilterung erhält die Weltwahrnehmung innerhalb von verrohrter Architektur einen medialeren Charakter. Was nichts anderes bedeutet, als eine Fokussierung des Bedeutenden durch Unterdrückung des weißen Rauschens der Zufälligkeiten.


Schwierig ist es daher, Aufmerksamkeit für Rohre zu gewinnen. Das Rohr ist unter allen Waren diejenige, die geradezu programmatisch sich jedes Appells, wahrgenommen zu werden, enthalten muss.


Rohre sind unsichtbar. Alle Architektur ist Rohr-Architektur. Das Rohr ist die Mutter aller Medien.


Alles Rohr?