Mittwoch, 23. Juli 2014

Das Fenster, das Tageslicht und die Architektur




Den Begriff Tageslicht verwenden wir seit der Verbreitung elektrischer Beleuchtung als Gegenstück zum künstlichen Licht. Die Architektur unterscheidet Belichtung von Beleuchtung. Vor der Zähmung des Feuers könnte ein Wort für Tageslicht ganz unnötig gewesen sein, aus dem gleichen Grund, aus dem der Fisch vom Wasser keinen Begriff hat, bevor der Angler ihn in die Luft zieht. Wir werden wohl nie erfahren, ob schon vor 500.000 Jahren ein Wort für Tageslicht zur Unterscheidung vom Mondlicht in Verwendung war.



Die frühesten Bauwerke haben das Wunder vollbracht, am helllichten Tage dunkle Innenräume künstlich herzustellen. Dies muss als ebenso faszinierend empfunden worden sein, wie im 19. Jahrhundert die neue technische Möglichkeit, künstlich „die Nacht zum Tag“ zu machen. Die Entwicklung der Glaserzeugung, vor allem der Schritt zum Flachglas und dessen industrieller Massenproduktion ermöglichte das Fenster im heute uns so selbstverständlichen Sinne. Die Differenzierung von Fenster, Wand und Türe verlieh lange Zeit den Bauten eine anthropomorphe Dimension der Wahrnehmung, die in der Frontwand ein Gesicht („Facade“) und entsprechend in der Tür einen Mund und in den Fenster Augen erblicken konnte.



Die Größe der Fenster war über Jahrhunderte von ökonomischen Rahmen geprägt. Das fensterlose Gebäude kehrte zuerst in Form des königlichen Gewächshauses zurück - reine Glasarchitektur schließt Fenster aus. Im Gegensatz zum größten Teil des architektonischen Bestands, der durch rhythmisches Alternieren von Stein und Glas, Wand und Fenster seine charakteristische Gestalt erhält, tendiert Glasarchitektur zum Monolithen ohne Stein, zur Skulptur aus Licht, zum Sinnbild des Kristalls.



Das Licht der Sonne ist eine so elementare Voraussetzung und Begleiterscheinung des Lebens, dass man leicht verführt ist, seinen Wert zu positivieren, wie es naturwissenschaftliche und medizinische Betrachtungen nahelegen. Blickt man jedoch zurück in die Geschichte, zeigt sich ein Bild der Abwechslung kollektiver Begeisterungen für das künstliche Licht, das helle Tageslicht und auch für die Düsternis.



So wurde etwa in Teilen Europas die gotische Kathedralenarchitektur aufgrund ihrer Lichtfülle abgelehnt. Die auf die Aufklärung folgende Romantik bevorzugte das Düstere, Novalis widmete der Nacht Hymnen. In Schivelbuschs „Geschichte der elektrischen Beleuchtung“ kann man die öffentliche Euphorie anlässlich der neuen Nachthelle der Metropolen nachlesen, und niemand hat die Feindlichkeit der bürgerlichen Wohnung des späten 19. Jahrhunderts gegenüber dem Tageslicht schöner beschrieben als Walter Benjamin, der vom Interieur als „komplettiertem Futteral“ sprach. In historisierender Absicht kehrten Putzenscheiben in die Fenster zurück, um Aussicht und Lichteinfall möglichst zu behindern, mehrere Schichten von Vorhängen und Draperien dämpften das Licht weiter, bevor es in dunkelbraun hölzernen Wand- und Deckenpaneelen endgültig verschluckt wurde.



An diesen Extremismus des Ausschlusses von Tageslicht aus der Wohnarchitektur muss man sich erinnern, um das Protestpotential und den Befreiungsimpuls der frühen Modernisten zu verstehen, die sich radikal auf die Seite der Taghelle schlugen und ein kontinuierliches Wachstum der Fenstergröße und des Einsatzes von Glas initiierten, welches bis heute fortwirkt.



Glas als Vermittler und Mittelding




Glas ist unsichtbar. Beinahe. Auf seiner Unsichtbarkeit beruhen die vielfältigen Funktionen und Beiträge, die es für das Sichtbarmachen leistet. Und das Beinahe, der schillernde Rest an eigener Sichtbarkeit, macht diesen realen Stoff anfällig für Metaphern. Ist Glas so transparent, wie es unseren Funktionserwartungen entspricht, fixiert es unsere Sicht auf das, was wir gerne „Realität“ nennen. Erst wenn es uns Sehstörungen verschafft, durch Trübung, Spiegelung und Reflex, tritt es selbst als Material, Körper und Zwischending hervor. Dieses reale Sichtbarwerden eines programmatisch Unsichtbaren provoziert Deutung und erzeugt Bedeutung.



Wo Glas sehen lässt, eröffnet es den Raum der Realität, wo es selbst sichtbar wird, eröffnet es den Raum des Metaphorischen. In der subjektiven Wahrnehmung als Phänomen wechselt es in permanentem Spiel zwischen diesen Räumen und Ebenen. Dieses bewegte Spiel verleiht der toten Materie Leben. Dass Glas gänzlich unsichtbar wird, ist nur selten der Fall und führt oft zum Unfall - gegen den es nur ein Mittel gibt: die Aufschrift „Vorsicht Glas!“



Ein Zwischending ist die Glasscheibe daher nicht nur zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, sondern auch zwischen dem Realen und dem Symbolischen. In der Glasscheibe wird symptomatisch, dass es gar keinen Blick aufs Reale geben kann, dem nicht das Symbolische dazwischen kommt, wie eine Brücke, die zugleich verbindet und trennt. Wie eine optische Linse, die den Blick nicht schärfen kann, ohne ihn zu brechen.



Im Licht der Aufklärung




Eine der ideengeschichtlichen Wurzeln der Begeisterung des Modernismus für Glas und Tageslicht war die Aufklärung und ihr Konzept des hellwachen, sich selbst überwachenden und reflexiv sich selbst transparenten Subjekts. Bei der Aufklärung handelt es sich um eine Lichtmetapher, deren Besonderheit darin liegt, keine Metaphern dulden zu wollen. Im Lichte der Aufklärung gelten Metaphern als dunkel und unrein; gegen sie ist mit den Tugenden des Glases, mit Helligkeit, Klarheit und Transparenz vorzugehen.



Trefflich fügt es sich, dass auch die Freiheit im Glas ihre Anschaulichkeit findet: Weil Unfreiheit in Gefängnismauern ihr stärkstes Sinnbild hat, wurde in der Architektur die Vergrößerung des Fensters - bis hin zur Totalisierung - auf Kosten des Mauerwerks zur Freiheitsmetapher.



Gleichheit und Brüderlichkeit dürfen nicht fehlen, wenn Glas die Aufklärung vollständig symbolisieren soll. Und tatsächlich: liegt nicht in der Homogenität des gläsernen Materials, im Abbau der Mauern und Grenzen zwischen Menschen und Klassen, im Durchlässigwerden traditioneller Ausgrenzungen, in der gleichmäßigen wechselseitigen Sichtbarkeit von Menschen in und außerhalb von Gebäuden ein starkes Sinnbild sozialer Indifferenz, Demokratie und gesellschaftlicher Offenheit?



Die Architektur der Moderne weist dem Glas als Verkörperung von Transparenz ein Bündel von Werten und Bedeutungen zu. Gemäß dem hohen Stellenwert des Funktionalen schätzt man am Glas primär dessen Durchsichtigkeit. Keinen Schein soll es erzeugen, keinen Schleier weben, sondern „hinter die Fassaden blicken lassen“, wie eine überaus beliebte aufklärerische Redewendung dies formuliert. Keine Mythen soll es erzählen, sondern die nackte, die ganze Wahrheit ans Licht bringen. Vernünftigkeit, Ornamentlosigkeit, Einfachheit und funktionale Effizienz sollen sich im großflächigen Glas spiegeln.



Die gegenwärtig vorherrschende Deutung des Glases besagt, dieses sei kein mythischer, sondern ein aufklärender Stoff, kein metaphorisches, sondern ein realistisches Baumaterial. Diesem Glasmythos gingen jedoch in der Geschichte der Architektur ganz andere, ja gegenteilige Glasmythologien voraus.



Glas, ein mythologischer Stoff




Der antimythische Stoff ist randvoll aufgeladen mit Sinn: „Die Sehnsucht nach Reinheit und Klarheit, nach leuchtender Helligkeit, kristallischer Exaktheit, nach körperloser Leichtigkeit und unendlicher Lebendigkeit fand das Glas als Mittel ihrer Erfüllung – den körperlosesten, den elementarsten, den wandlungsfähigsten und an Deutungen und Anregungen reichsten Stoff, der wie kein anderer verschmilzt mit der Welt, der am wenigsten starr steht, sondern sich wandelt mit jedem Wandel der Atmosphäre, unendlich reich an Beziehungen, das Oben im Unten, das Unten im Oben spiegelnd, beseelt, voller Geist und lebendig“[i], schrieb der Architekturkritiker Adolf Behne im Jahre 1916 über jenes pionierhafte Glashaus, das Bruno Taut auf der Kölner Werkbund-Ausstellung 1914 realisiert hatte.



Glas und Natur: The Crystal Palace




Im Gegensatz zu den steinernen Gebäuden, in denen die Tradition der Ansässigkeit gleichsam einzementiert war, wurden die Glas-Eisen-Konstruktionen im 19. Jahrhundert vorzugsweise für jene neuen Bautypen verwendet, die aus der gestiegenen Mobilität und Transitorik hervorgegangen waren. Der Bahnhof war die wichtigste architektonische Aufgabe, die den technischen Fortschritt der Eisenkonstruktion vorantrieb. Daneben verbreiteten sich die Passagen, von Glas überdachte Einkaufsstraßen, in den Metropolen Europas. Glasarchitektur war an Passanten und Passagiere adressiert, ein kultureller Gegenpol zu jedem Sitz, zu jeder Wohnlichkeit. Die Ingenieure zielten auf die gläserne Haut, auf die Illusion eines luftigen Schwebens.



Trotz der ästhetischen Faszination, die der Glasbau im 19. Jahrhundert ausübte, wurde ihm die künstlerische Anerkennung verweigert. Der Begriff Architektur blieb auf den ornamentierten Steinbau beschränkt, die Materialien Eisen und Glas wurden der technisch-rationalen Welt des Ingenieurwesens zugeordnet. Genieästhetik und Historismus hatten die Aufgabe übernommen, die Lasten der Modernisierung ästhetisch zu kompensieren. Der Glasbau, als technische Innovation, prunkte auf der Seite des Fortschritts und blieb als „Zweckbau“ lange Zeit aus dem Pantheon der schönen Künste ausgeschlossen.



Für die Londoner Weltausstellung 1851 wurde von Paxton der gigantische „Crystal Palace“ gebaut – er wurde rasch berühmt und gab dem Glasbau starke Impulse. Der Zeitgenosse Richard Lucae schilderte seinen Eindruck mit folgenden Worten: „...wir sind in einer künstlich geschaffenen Umgebung, die – ich möchte sagen – schon wieder aufgehört hat, ein Raum zu sein. Wie bei einem Kristall, so gibt es auch hier kein eigentliches Innen und Außen. Wir sind von der Natur getrennt, aber wir fühlen es kaum. Die Schranke, die sich zwischen uns und die Landschaft gestellt hat, ist eine fast wesenlose. Wenn wir uns denken, dass man die Luft gießen könnte wie eine Flüssigkeit, dann haben wir hier die Empfindung, als hätte die freie Luft eine feste Gestalt behalten, nachdem die Form, in die sie gegossen war, ihr wieder abgenommen wurde. Wir sind in einem Stück herausgeschnittener Atmosphäre.“[ii]



Tageslicht und Moderne




Im 20. Jahrhundert griff die Glasarchitektur auf alle Bautypen über. „Das Fenster wurde aufgerissen, die Wohnung verlor ihren Festungscharakter, ihre Solidität. Dabei fiel dem Licht die Rolle eines Peitschenschlages zu, der den Bewohner begreifen lehren sollte, dass das Drinnen ein Draußen war. Das Fenster bildet nur mehr eine entstofflichte Membrane zwischen innen und außen. Im scharfen Licht und der blitzenden Sauberkeit gibt es keinen Rückzug mehr von der Welt der Arbeit. Der Begriff des Privatiers ist unwiderruflich aufgelöst. Das störende Fenster wird allgegenwärtig. Damit vollendet sich die Säkularisierung jener sozialen Utopien, die mit dem Glashaus den Ort der Versöhnung von Natur und Gesellschaft zu entwerfen suchten.“[iii]



Der Gestus des Öffnens und Vergrößerns des Fensters, der Drang zum Licht zielte auf die „Vision des befreiten Wohnens: Das Haus ist nicht mehr das schwerfällige Ding, das den Jahrhunderten trotzen will... kein archaisches Wesen mehr, das mit seinen tiefen Fundamenten im Boden verwurzelt ist und mit einer Pietät erbaut, auf die sich seit so langer Zeit der Kult der Familie stützt...“[iv] Durch Glas und Helligkeit soll der moderne Mensch befreit werden von der traditionellen Ableitung seiner Identität aus Abstammung und Ansässigkeit – Leichtigkeit, Mobilität und Individualität werden für das sich selbst aus Reflexion und autonomem Handeln begründende Subjekt des 20. Jahrhunderts zum neuen Leitbild. Wurzeln und Steinmauern sind die Gegenbilder zu jener Freiheit, die in der Glasarchitektur anschaulich werden soll.



Den utopistischen Architekten der „Gläsernen Kette“ erschien Glas als „das einzige Material, das durch das Licht als solches zur Darstellung gebracht und zugleich durch das Licht entmaterialisiert“[v] wird. Mit dem Glashaus als Kristall verband sich „das elitäre Selbstgefühl einer Künstlergemeinschaft, die den Affront suchte: Er war gegen den bürgerlichen Spießer gerichtet, der, hinter festem Mauerwerk sitzend, es sich gemütlich gemacht hatte.“ Die Helligkeit sollte künftig verhindern, in „Stumpfsinn, Gewohnheit und Gemütlichkeit“ zu verfallen[vi].



Helle Gegenwart




Seither schillert Glas, im Neomodernismus wie im Dekonstruktivismus, zwischen der Bedeutung des Funktionalen und dem Funktionieren von Bedeutung. Doch das ahnte schon Bruno Taut, der seine Korrespondenzen mit dem Decknamen „Glas“ zu unterzeichnen pflegte: „Glas ist jener Baustoff, der Materie und doch mehr als gewöhnliche Materie bedeutet.“[vii]



Ob die Geschichte des Fensters mit dessen Totalisierung endet, ist ungewiss, seit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Energie knapp und kostspielig wurde. Heute werden Wärme, Kälte, Luft, Energie, Erzeugung, Transport, Licht und Schatten komplex und langfristig bilanziert und in immer neue technische Kombinationen gebracht. Glas tendiert im dritten Jahrtausend vom simplen Material zur technologisch angereicherten, multifunktionalen und steuerbaren Membrane, die ebenso Fenster sein kann, wie auch Wand oder Dach. Was wir aus der Geschichte der Raumbelichtung für die Zukunft mit Gewissheit schließen können, ist einzig deren Doppelgesichtigkeit, in der technische und kulturelle Innovation zu gleichen Teilen ihren Ausdruck finden werden.



Literatur:

Adolf Behne, Gedanken über Kunst und Zweck, dem Glashause gewidmet, in: Kunstgewerbeblatt, 27. Jg., Neue Folge 1915/16, H. 1 Oktober, S. 2.

Monica Hennig-Schefold, Helga Schmidt-Thomsen: Transparenz und Masse. Passagen und Hallen aus Eisen und Glas 1800-1880. Dumont, Köln 1972, S. 8.

„Das Glashaus als Fluchtpunkt der Sozialutopie“, in: Georg Kohlmaier, Barna von Sartori: Das Glashaus. Ein Bautypus des 19. Jahrhunderts. Prestel, München 1981, S. 28ff.

Rosemarie Haag Bletter: Paul Scheerbart´s Architectural Fantasies. Journal of the Society of Architectural Historians, Mai 1975 Bd. XXXIV, Nr. 2, S. 90 ff.

Klaus-D. Pohl: „Sinnbild neuen Lebens“ – Kristall und Kristallisation in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Faszination Edelstein. Katalog d. Hessischen Landesmuseums Darmstadt, Bern 1992, S. 80

Regine Prange: Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee. Olms Verlag, Hildesheim 1991

Paul Scheerbart: Glasarchitektur und Glashausbriefe. Verlag Kl. Renner, München 1986 (1914), S. 55 und 85.

Wolfgang Pehnt: Die Architektur des Expressionismus, Hatje, Stuttgart 1981 (1973), S. 41

Magdalena Droste: Bauhaus. Taschen Verlag Köln 1993, S. 79 ff

Wolfgang Pehnt: Der Anfang der Bescheidenheit. Kritische Aufsätze zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Prestel, München 1983, S. 86

Anmerkungen:

[i] Adolf Behne, Gedanken über Kunst und Zweck, dem Glashause gewidmet, in: Kunstgewerbeblatt, 27. Jg., Neue Folge 1915/16, H. 1 Oktober, S. 2.

[ii] Ebd. S. 17

[iii] Ebd. S. 41, 44

[iv] so ein Zeitgenosse der Neuen Sachlichkeit, zit. Nach Kohlmaier a.a.O. S. 41

[v] Kohlmaier, a.a.O. S. 37

[vi] Kohlmaier, a.a.O. S. 38

[vii] zit. nach Pehnt, ebd. S. 77