Sonntag, 20. Juli 2014

Das Fenster – am Ende seiner Geschichte?

Fenster sind etwas Selbstverständliches. Wenn kleine Kinder ein Haus zeichnen, hat das ein Dach, Mauern, Tür und Fenster. Eine fensterlose Welt können wir uns kaum vorstellen. Und doch gibt es Tendenzen und Innovationen der Technik und Architektur, die das gute alte Fenster in seiner Existenz bedrohen oder zumindest – freundlicher formuliert – herausfordern.




Für die Architektur-Biennale 2014 in Venedig wurde von ihrem Kurator, dem Star-Architekten Rem Koolhaas, der Begriff „Fundamentals“ als Titel gewählt. Damit sind nicht nur die Fundamente eines Bauwerks, sondern all jene wesentlichen Elemente gemeint, aus denen sich jedes Gebäude zusammen setzt: Fenster, Boden, Wand, Treppe...

Im Rückblick auf die gesamte Geschichte des Bauens spielte die Erfindung des Fensters eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der Architektur. Das ganz frühe Extrem war der fensterlose Bau, wie z.B. das indianische Pueblo, das nur oben eine Öffnung hat, oder das Iglu der Inuit. Auch noch das antike Atrium-Haus der Römer ist nach außen weitgehend geschlossen. Licht und Luft empfängt es aus dem zentralen Innenhof, dem Atrium. Darin zeigt sich eine Lebensform, die sich vom Außen stark absondert und auf einen familiären Schutzraum hin zentriert ist. Man könnte das eine introvertierte Architektur nennen, die nach außen mauert und im Innersten ein kleines Paradiesgärtlein mit Teich und Blumen birgt.


Historisch folgt dann die große Geschichte des Fensters, die bis heute unsere Idee eines Hauses prägt. Mit den technischen Möglichkeiten wuchsen die Fenster, vor allem seit der industriellen Herstellung von Flachglas im 19. Jahrhundert. Diese Entwicklung führt bis zu jenem äußersten Punkt, an dem es Gebäude gibt, die gar keine Außenmauern mehr haben, sondern nur noch aus Fenster bestehen. Das ist genau genommen das gleiche, wie dass sie gar keine Fenster mehr haben, sondern gläserne Wände. In den stilprägenden Einfamilienhäusern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – man denke nur an Mies van der Rohes Villa Tugendhat – findet die Architektur zurück zum fensterlosen Haus. Dieses ist freilich nicht ummauert, sondern voll verglast. Gleiches gilt für die Industriearchitektur der frühen Moderne, die erste Glasfassaden, die so genannten „curtain walls“ hervorbrachte.

Die Bürobauten der heutigen Stadtzentren sind oft genug Glaswürfel. Ihre Fassaden mildern und filtern jedoch meist die Einsehbarkeit. Am Bauhaus diskutierte man noch die totale Transparenz als moralisches Ideal. Permanent von außen für alle sichtbar sein zu wollen erforderte jedoch einiges an Heldentum. Mittlerweile haben Architekturhistoriker aufgearbeitet, wie unwohl sich die ersten Bewohner voll verglaster Villen gefühlt haben – Vorhänge waren ja vom Architekten meist verpönt und „verboten“. Altmodische Bedürfnisse wie Privatheit und Intimität sollten den neuen Ideen der Befreiung, Vernunft und Offenheit geopfert werden. Den Bewohnern wurde viel abverlangt von diesen Idealbauten.



In der Architektur der Gegenwart sind beim Einfamilienhaus die Wände zurück gekehrt, sie werden jedoch mit gläsernen Wänden kombiniert. Was es nicht mehr gibt, ist das klassische, repräsentative, anthropomorphe Kreuz- und Flügel-Fenster. Statt dessen sehen wir kleine verglaste Luken und gläserne Bänder in allen Längen und Breiten, sowohl horizontal als auch vertikal. Die sehen aus wie Fenster, die keine Fenster sein wollen. Die große historische Weiterentwicklung in der Architektur aber ist die Überwindung des Gegensatzes von Wand und Fenster durch das Konzept der Membrane.

Beim Fenster fallen die Funktionen Licht, Luft, Aussicht und Einblick in einem einzigen simplen Objekt zusammen. Moderne Gebäudetechnik trennt diese Funktionen, um jede für sich optimieren und fein regulieren zu können. Das Ideal der Membrane ist eine vielschichtige Gebäudehülle, die verschiedene Grade der Transparenz und Verschattung, Öffnung und Perforation, Durchlässigkeit und Dichte miteinander verknüpft. Damit kommt an jeden Ort im Gebäude so viel Licht, Luft, Einsicht und Aussicht, wie es den Bedürfnissen der Bewohner entspricht. Zur Idee der Membrane gehört auch die Steuerbarkeit, die Variabilität. All das, was heute mit dem Begriff „smart home“ angesprochen wird. Nicht das Haus, sondern der Mensch bestimmt, wie offen oder geschlossen eine Situation gerade sein soll.

Entwürfe von Delugan Meissl als Beispiele für Fenster als Band und für das Konzept der Membrane.

Membrane könnte man definieren als „weder Mauer noch Fenster“, als eine mehrschichtige Außenhaut, deren Charakteristikum darin besteht, auf differenzierende Weise durchlässig zu sein. Sie folgt der Idee der Halbdurchlässigkeit, welche dann im Inneren des Gebäudes mit modernster Technik real hergestellt wird. In einem solchen Bauwerk gibt es natürlich kein Vorhangverbot, im Gegenteil. Großzügige Verglasung gibt die Möglichkeit zur Öffnung, aber nicht mehr den Zwang, wie in der Programmatik des frühen Modernismus. Die mehrschichtige Membran-Hülle von heute bietet das Potential, zwischen Öffnung und Schließung frei wählen, abstimmen und modulieren zu können.

Es geht dabei um variable durchlässige Schichten, die zwischen Innen und Außen vermitteln. Das entspricht unserem heutigen, komplexer gewordenen Verhältnis zur Natur: Die klassische Mauer war ein gegen die bedrohliche Natur gerichtetes Projekt. Die Vollverglasung wollte ein romantisches Leben in der Natur, was nur zum Schein und in Parks gelingen konnte. Heute wollen wir mit der Natur verbunden sein, in einem Dialog, der unser planetarisches und ökologisches Bewusstsein mit reflektiert. Und Technologie nicht mehr prinzipiell als naturwidrig, sondern als Entwicklungschance dafür begreift, mit der Natur zu leben, ohne dass der Mensch die Natur schädigt, und ohne dass die Natur den Menschen bedroht. In diesem Sinne ist die Membrane als Thema der Architektur nicht nur Ergebnis fortgeschrittener Haustechnik und komplexerer Anforderungen, sondern auch ein Sinnbild, das unser neues Verhältnis zur Natur zum Ausdruck bringt.