Samstag, 4. April 2015

Intelligentes Material. Das Un-Ding, dem die Zukunft gehört

Was bedeutet überhaupt "Material"? Ist es das Gegenteil eines "Dings"? Ist es das Realste, was es gibt, oder eine reine Abstraktion und philosophische Spitzfindigkeit? Und ist es nicht paradox, von "intelligenten Materialien" zu sprechen? 


Material ist stumm. Das war von Anfang an so, denn schon der Urknall, in dem es entstanden sein soll, konnte nicht nur deshalb nicht gehört werden, weil es noch keine Ohren gab. Dieser Knall war kein lautliches Phänomen, er ist von Anfang an eine Metapher des Anfangs, eine Matrix / Mutter der Existenz alles Materiellen überhaupt.

Material bewegt sich nicht von selbst. Es ist passiv, träge, schwer und ruhend. Eine Totgeburt der Schöpfung, nichts als unförmiger Widerstand.

Material ist dumm. Selbst wenn es knarzt, weil es sich doch mal dehnt oder spannt, gibt es zwar Laut, ist aber immer noch stumm, weil dumm. Es hat uns nichts zu sagen.

Derzeit ist eine Revolution in Gang, die erste lautlose Revolution der Geschichte: Das Materialzeitalter ist angebrochen, und kaum einer hat davon gehört. Und doch: „Intelligente Materialien“ sind schon zum Schlagwort geworden! Zwar weiß man nicht, was dieser Ausdruck bedeuten soll, aber er hat Charme. Besticht er doch mit der Paradoxie, Intelligenz jenem Phänomen zuzusprechen, das unter allen Phänomenen dieser Welt das garantiert unintelligenteste ist: dem rein Stofflichen. Das klingt unterhaltsam, macht kurz Karriere in Medien, und ist schon wieder stumm – materialgerecht, könnte man sagen.

Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit – lang ist es her, dass Epochen nach Materialien benannt wurden. Heute erleben wir einen Stafettenlauf von Leittechnologien, die einander in immer schnellerer Folge ablösen in ihrer Faszinationskraft der Öffentlichkeit. Dampfmaschine und Eisenbahn prägten noch ein Jahrhundert, ebenso später das Automobil. Wie lange währte das Zeitalter des Fernsehens? Das des Computers, des Internet, der Gentechnologie, der drahtlosen Konnektivität elektronischer Minigeräte? Zu einem Medienhype bringt es technologische Innovation nur dann, wenn sie sich ins Gewand alter mythischer Bilder hüllen und mit überbordenden Heilsversprechen ausstatten kann. Die Gene versprachen erneut Zugriff auf den Wesenskern, der vernetzte Multimedia-Desktop platzierte das gute alte Auge Gottes auf den Schreibtisch, das Handy mutiert gerade zum universalen Zauberstab. Dass tote Dinge zum Leben erwachen können, zu sprechen beginnen und sich als beseelt (im Sinne von selbsttätig) erweisen, ist uns aus Märchen, Mythen und Träumen vertraut und aus der interaktiven Gerätewelt mittlerweile alltäglich gewohnt. Doch es sind stets Dinge, Objekte, denen wir lebendige Aktivität und auch intelligentes Kommunizieren zutrauen. Das Material ist eine Stufe des Seins unterhalb der Dinge, ist bloß das, woraus die Dinge gemacht sind. Wie sollte das Material selber aktiv und reaktiv auftreten können? Nicht einmal im Traum oder im Zeichentrickfilm kann Material ohne Objektform auftreten und als Nachtgespenst durchs Zimmer tanzen. Material bleibt prinzipiell stumm, dumm, träge und unanschaulich formlos. So sehen wir es als übrig gebliebener Bodensatz antiker Philosophien, frühneuzeitlicher Naturwissenschaften und praktischer Diskurse der Ingenieure. Wie sollte nun dieser dunkle amorphe Klumpen des Ungebrauchten plötzlich als „intelligent“ charakterisierbar geworden sein?


Auch wenn die mikroelektronischen „smart devices“ in ihrer Funktion und ihrem Innenleben für uns undurchschaubar sind, projizieren wir doch alltäglich unseren Maschinenbegriff des 19. Jahrhunderts in sie hinein und trösten uns über ihre Unanschaulichkeit damit hinweg, dass sie eben zu klein und zu kompliziert sind, um als Maschinen nachvollziehbar zu sein. Wir leben mit Black Boxes, kümmern uns nur noch um die Interfaces und begnügen uns mit dem Wissen um ein paar Anwendungen, die wir gern nutzen. Das Innere der elektronischen Maschinen hat sich verdunkelt, in der Black Box ist es so finster wie im Inneren eines Faustkeils. Haben sich die Maschinen dank Miniaturisierung nicht den Materialien angenähert, zumindest in der Alltagswahrnehmung?

Material ist unsichtbar. Hat schon jemand Materie ohne Form gesehen? Auch Rohstoff hat eine Form, eine rohe Form. Material nennen wir etwas, an dem wir eine Form wahrnehmen und den abstrakten Gedanken daran knüpfen, dass eine Form aus etwas bestehen muss. Material ist somit die Abstraktion eines Aspekts wahrgenommener Formen. Wir können nur Formen wahrnehmen, niemals Materialien. Und doch sind wir gewohnt, im Material dasjenige zu erblicken, was uns den Realitätsstatus einer Formwahrnehmung garantiert und diese von der bloßen Erscheinung, von medialer Repräsentation oder halluzinatorischem Trugbild unterscheidet.

Wir leben in einer materiellen Welt, haben ein materialistisches Weltbild, orientieren uns nach materiellen Werten und gleichzeitig kommt uns der Materialbegriff abhanden. Das ist beinahe schon tragisch. Postmaterialismus und die Entdeckung des Immateriellen bieten wenig Trost. Die Philosophen haben den Begriff Materie schon lange zu den Akten gelegt. Die Physiker versorgen uns seit hundert Jahren mit Todesnachrichten dieses Begriffs, der sich um so mehr auflöst, je genauer man ihn erforscht. Nostalgisch blicken wir zurück in jene Zeit, als das Atom (griechisch „atomos“ = das Unteilbare) noch als unteilbares kleinstes Teilchen der Materie galt. Man konnte sich ein materielles Ding darunter vorstellen, nur zu klein, um es mit freiem Auge zu betrachten. Ein kleines Ding, aus dem die größeren gebaut sind. Doch dann wurde es nicht nur geteilt und wieder geteilt, auch die Teilchen der Teilchen waren gar keine richtigen Teile mehr in dem Sinne, dass man sie sich wie Bauklötze vorstellen konnte. Die ganze Baumetaphorik des materialistischen Weltbilds stürzte ein! Worauf kann man aber noch bauen, worauf sich verlassen, wenn die Teilchen auch bloße Wellen oder überhaupt nur noch Wahrscheinlichkeiten auftretender Effekte und Anwesenheiten sind?

Die Physiker des 19. Jahrhunderts haben uns durch die Erforschung der Materie letzte Gewissheit, und damit Wahrheit über die Wirklichkeit versprochen, um dann im 20. Jahrhundert uns das Fundament jeglicher Realität, die wir auf die Idee der Materie gegründet hatten, unter den Füßen wegzuziehen. Die Atomisierung des Atoms in nichtmaterielle, nur aus messbaren Reaktionen maschineller Versuchsanordnungen modellhaft konstruierter und nur noch statistisch mathematisierbarer „Elementarteilchen“ zählt zu den großen Kränkungen des Menschen durch die Wissenschaft. Verstoßen aus dem Zentrum des Universums, selber bloß ein komplexeres Tier mit einem Geist wie eine Maschine und einer Seele, die nicht einmal Herr im eigenen Hause ist, verschwindet nun auch noch die Materie als Träger und Realitätsgarant aller Erscheinungen. Der Wille zum Wissen hat – nach einem kurzen manischen Delir in der Hochzeit des Materialismus, dem 19. Jahrhundert – sich in ein Zauberlehrlings-Syndrom verwickelt und wird die Folgen der Entzauberung nun nicht mehr los. Was trägt noch, wenn sich selbst die einst so handfeste, alltagsrobuste Materie als bloße Abstraktion und Illusion erweist?

In Brüssel wurde jüngst das Atomium aufwendig restauriert – als Denkmal einer vergangenen Epoche (des Atomzeitalters!) zieht es Touristen an, weil es als modernistische Absolutheitsinszenierung historisch geworden ist. Mater Materia, den „Atombusen“ damals innovativ mit „Bikini“ (benannt nach jenem Atoll, auf dem die Atombomben getestet wurden) geschmückt, nährte Hoffnungen auf endgültige Herrschaft über alles Materielle und – in Bombenform – über alle Länder der Erde gleich mit. Hast du das kleinste Teilchen, kannst du die Welt in ihre Einzelheiten zerlegen und neu zusammenbauen, so lautete die atomare Vision einer zweiten Schöpfung aus menschlicher Allmacht. Aufklärung, metaphorisch ein Programm, durch Zerteilen der Phänomene Licht in die dunkle Materie zu bringen, schien an ihr Ziel gelangt, und damit in ihre Krise. Der Griff ins Feste griff ins Leere. Denn zwischen den Teilchen ist leerer Raum – ein Mikrokosmos, dem Endlichkeit ebenso abgeht wie dem Makrokosmos.

Seither sind wir pragmatischer geworden mit unserem Wissen, versuchen nicht mehr, Alltagswissen mit Naturwissenschaft und Philosophie unter einen Hut zu bringen, und haben das Wort Wissen heimlich und systemwidrig in den Plural versetzt. Für das Hantieren mit Gebrauchsgütern, Artefakten, Rohstoffen und Werkzeugen sind wir zu Descartes und Marx zurück gegangen und haben beschlossen, die Vision des Atomiums trotz besseren Wissens beizubehalten. Nur so können wir unseren Glauben aufrecht erhalten, dass es eine materielle Welt gibt, der gegenüber man sich vernünftig und realistisch verhalten kann, und daneben etwas Nichtmaterielles, Geistiges, mit dem man sich beschäftigen kann, nachdem die Arbeitswoche vorbei ist. Als real gilt immer noch, was „man angreifen kann“, weil es aus Materie besteht. Das trifft zwar nur auf Festkörper innerhalb des menschlichen Gebrauchs zu, ist aber deshalb umso praktischer. Dieser simplen Ordnung zufolge wurde oft (selbst von Hegel in einer dunklen Minute) die Luft dem Geistigen zugeordnet, und nicht dem Materiellen. Praktisch eben (wenn auch nicht unter Wasser gültig...).

Mit dieser „realitätstüchtigen“ Entkoppelung der Alltagsbegriffe Materie und Material von Wissen und Reflexion ließe es sich gut weiter leben, wenn nicht die Alltagswelt selber von neuen Technologien in einer Weise verwandelt würde, die eine Anpassung der Begriffe und Vorstellungen von Realität an diese Realität nötig machte, um weiterhin die eigene „Welt“ zu verstehen. So ist es etwa immer noch gewöhnungsbedürftig, in Medien nicht etwas Geistiges, sondern etwas Materielles zu sehen, obwohl bereits ein großer Teil der uns umgebenden Oberfläche im Stadtraum Medienfläche ist.

Ebenso verschwinden zusehends jene Maschinen, die noch aus Teilen zusammengesetzt waren, welche aus Material gefertigt waren, die mechanischen Maschinen also, aus unserer Lebenswelt und werden durch elektronische Geräte ersetzt. Um einen Computerchip zu begreifen, ist jedoch ein kybernetischer Maschinenbegriff nötig, und der kommt ohne jeden Bezug zu einer bestimmten Materie aus, weil er nur mathematische Operationen und Steuerbefehlsketten umfasst.

Ausgestattet mit Mikroelektronik kommt uns der auf Materie, Ding, Maschine, Teil etc. basierende Realitätsbegriff gerade dort abhanden, wo er sein letztes praktisches Refugium gefunden hatte – im alltäglichen Umgang mit der Dingwelt, mit allem, was der Mensch angreifen kann.

Denn in der Hand halten wir meist das Handy, und in diesem wird Information in einer Weise prozessiert, die man ebenso gut als materiell wie als geistig beschreiben kann, wenn man denn alte Begrifflichkeiten weiter ziehen will. Silizium-Kristalle, in dünnsten Schichten gestapelt, ordnen schwache elektrische Ströme, die sich im Zusammenwirken mit deren Struktur selbst organisieren (Steuerung der Steuerung der Steuerung...). Und auch wenn man einen Chip nicht als intelligentes Material bezeichnet, so ist er doch das zentrale Symptom unserer technischen Kultur für die Konvergenz von Information und materieller Struktur zum medialen Objekt.

Es sind die neuen Dinge, die wir handhaben, die uns metaphysische Dualismen wie „Geist und Materie“ zunehmend abgewöhnen, nicht nur auf der Ebene der Philosophie, sondern des Verständnisses von Gebrauchsanweisungstexten. Die Informationsmaschinen sind nur von ihrer Informationsebene her zu begreifen, sie bestehen aus informierter Materie und das Programm ist in ihnen zum strukturierten Ding verfestigt. Die materielle Struktur ist Information, und die Information existiert nicht außerhalb einer informierten Materie.

Damit ist ein Modell des Verständnisses von Realität erreicht, das neue Sichtweisen auf das Phänomen Material eröffnet, deren Folgen, als technische Erfindungen, gerade erst zu wuchern beginnen. Die Materialwissenschaften sind im Aufwind, weil mit der Verabschiedung eines metaphysischen Vorverständnisses und aller baulichen Metaphern heute Fragestellungen möglich sind, die noch vor Kurzem undenkbar waren. In den wissenschaftlichen Modellen, die bei technischen Entwicklungen zur Anwendung kommen, bekommen philosophische Konzepte weit reichende praktische Wirkungen. Intelligentes Material muss denkbar sein, damit eine Versuchsanordnung konzipiert werden kann, in der sich die Möglichkeit schließlich als Wirklichkeit erweist.

Der alltagspraktische Begriff von Material hat bisher im Bereich des Bauens seine am wenigsten problematische Geltung behalten können. Umgekehrt ist die Erfahrungswelt des Bauens immer schon der metaphorische Bezugsrahmen, aus dem der Begriff Materie seine evidente Sinnhaftigkeit in Philosophie und Naturwissenschaft bezogen hat. Die Frage, „aus was etwas ist“, hat im Baugeschehen eine fraglose Relevanz.

Doch auch das Bauen wird komplexer. Steine oder Ziegel wie Atome aneinander reihen und auftürmen ist nicht mehr für alle Bauten charakteristisch. Schon bei der statischen Konstruktion eines Gefüges von Verstrebungen materialisiert sich eine Rechenoperation in einer Weise, die eine Unterscheidung von Information und Materie unsinnig erscheinen lässt. Umso mehr, als nun auch intelligente Materialien, die auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren, zunehmend in Bauten Verwendung finden.

Damit diese Entwicklung weiter voran geht, bedarf es nicht nur ausreichender Information zur Sachkenntnis. Es muss auch ein neues Verständnis von dem, was Material heute überhaupt heißt, erlangt werden, um gedanklich die heute materialisierte Intelligenz in die eigenen Gestaltungsansätze und Herangehensweisen zu integrieren.

Intelligentes Material denken zu lernen, ist heute nicht nur eine philosophische, sondern eine berufspraktische Herausforderung für alle, die Wirklichkeiten gestalten. Denn wer wollte nicht den Materialien, die er verwendet, gedanklich gewachsen sein?