Samstag, 4. April 2015

Die Baustelle. Warum das Lieblingsärgernis des Stadtbewohners auch Freude machen kann.


Die Baustelle ist die häufigste und emotionalste Erlebnisform von Veränderungen der Infrastruktur im Stadtraum. Sie provoziert meist Ablehnung, vor allem bei Straßenbau- und Großprojekten. Doch sie kann auch Freude bereiten, wie jene Menschen beweisen, die lange Zeit an Bauzäunen stehen, um zuzuschauen. Schutthaufen, Ziegelstapel, Kräne und Mischmaschinen bestimmen das Bild. Was macht sie so einladend, dass wir gerne verweilen? Womit weckt die Baustelle unsere Schaulust?



Das moderne Leben wird schnell gelebt. Auch als Zuschauer medialer Unterhaltungsangebote haben wir steigende Ansprüche an die Geschwindigkeit, den Abwechslungsreichtum und die Intensität der Dramatik. Die im Musikvideo und Werbeclip entwickelten raschen Schnittfolgen prägen heute auch den Film und das Fernsehen. Sogar Texte unterliegen einem zunehmenden Druck zur Kürze, um noch gedruckt zu werden. Die Spanne der Aufmerksamkeit wird kleiner, ihre Anforderung an Kurzweiligkeit wächst. Umso erstaunlicher ist es zu beobachten, dass das Bestaunen einer Baustelle sich gegen die multimediale Konkurrenz aller Schauangebote halten kann. Nach dem Vorbild der Berliner Infobox auf dem Potsdamer Platz, die sich zum Touristenmagnet entwickelte, wurde in Wien der höchste hölzerne Aussichtsturm der Welt gebaut, um die Großbaustelle Zentralbahnhof gebührend ins Visier nehmen zu können. Was aber will man dort sehen?

Als Bühnen des Entertainment sind Baustellen ungemein handlungsarm. Ihre Protagonisten bleiben gesichtslos. Der Plot kommt zwar stetig, aber in solcher Langsamkeit voran, dass der Zuschauer den Sinnzusammenhang einzelner Vorgänge gar nicht herstellen kann. Vielleicht erzeugt dieses Ratespiel die Spannung? Im Baustellentheater sehen meist Wartende Wartenden zu. Dramatik und Bühnenbild könnten öder nicht sein. Die Aufführung dauert Jahre. Und der Erzählstoff des Stücks ähnelt dem des Telefonbuchs: viele Personen, wenig Handlung.

Die Baustelle ist das unspektakulärste Spektakel der Welt. Trotz der inflationären Häufigkeit ihres Vorkommens ist und bleibt sie eine Ausnahmeerscheinung, und zwar eine programmatische. Ihre lokale und zeitliche Unterbrechung unserer ansonsten fest gefügten Welt spricht als Thema die Menschenseele an. So wenig diese Wüste bildlich hergibt, so viel an Sinnbildlichkeit spendet sie uns. Gerade weil es in Erdhaufen und Ziegelstapeln kaum Bedeutsames zu erspähen gibt, lädt uns die Baustelle ein zur Projektion und metaphorischen Füllung der Lücke, die sie ins Wiedererkennbare und Wohlgeordnete schlägt. Alles Anwesende verweist auf noch Abwesendes und provoziert einen Brückenschlag durch die Fantasie. Wir staunen, gerade weil nichts zu sehen ist außer dem gewaltigen Abstand zwischen Schutt und gerenderter Vision. Wir erblicken das Chaos und sind zugleich daraus gerettet vom Wissen, einen hochgradig geplanten und funktional geordneten Ort vor uns zu haben. Jede Anhäufung von Material ist mit Bedacht gewollt und wartet auf ihre sinnhafte Verwendung, die nur dem Zaungast Rätsel aufgibt. Und wenn die Arbeiter nichtstuend herumstehen, sind sie nicht etwa faul, sondern gehorchen damit einem exakt durchökonomisierten Aktionsplan, der bloß momentan ihr Warten erzwingt. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts war das freilich anders. Der biertrinkend untätige Bauarbeiter war am Beginn der sozialdemokratischen Ära eine politische Ikone von alltäglicher Anschaulichkeit.

Auch wenn heute auf Baustellen rascher und ökonomisierter gearbeitet wird als je zu vor, wirkt das Geschehen in der Außenperspektive dennoch wie in Zeitlupe, denn zu fern liegt das große Ergebnis, als dass die tausend Schritte dahin sich zu jenem lebendigen Bild des Bauens synthetisieren ließen, das man zuletzt als Kind mit LEGO-Steinen erlebt hat. Überspitzt gesagt sieht man auf Baustellen Vieles, nur nicht, dass etwas auf nachvollziehbare Weise aufgebaut wird. Das Errichten einer Ziegelmauer ist jene Ausnahme, welche diese Regel bestätigt. Doch diese Bauweise ist bei Großbauten selten geworden und nimmt auch bei Einfamilienhäusern den kleinsten Teil der Gesamtbauzeit ein. Montage ist an die Stelle des Auftürmens getreten. Die damit gestiegene Komplexität erfordert einen höheren Grad an Organisation, der vom Bauzaun besehen jedoch den Eindruck des Unzusammenhängenden und Chaotischen noch verstärkt. Die Baustelle staut nicht nur den Fluss des Verkehrs, sondern auch den der Zeit. Die Baulücke ist zugleich eine Lücke im Zeitregime, sie hat ihren eigenen Takt und weiten Horizont. Der Bauzaun markiert eine Schwelle, an der zwei Zeitlichkeiten aneinander geraten. Anders als der Actionfilm, dessen Montage die alltägliche Taktung überschreitet, fasziniert die Baustelle dank Unterschreitung des Lebensflusses. Damit überbietet sie ästhetisch den Zeithorizont des Betrachters. Dem „Verein zur Verzögerung der Zeit“ stünde es gut an, Wallfahrten zu Großbaustellen zu organisieren.

Verführung des Bodenlosen

Der Bauzuschauer sieht von seinem festen Standplatz aus auf ein Terrain, dessen Bodenfestigkeit prekär ist. Lockere Erde, Schlamm, Gruben und Schächte gefährden den sicheren Tritt von unten, Gerüste, Kräne und Traversen verunsichern hoch oben das Stehen und Gehen. Bauen ist eine vertikale Herausforderung nicht nur des Gleichgewichtsorgans, sondern auch des metaphorischen Sinns für die Verlässlichkeit des irdischen Daseins auf dem Boden der sogenannten Realität. Die Baustelle zieht uns gleichsam existenziell den Boden unter den Füßen weg. Auf dem hohen Gerüst sehen wir den übermütigen Ikarus in seiner Gefährdung. In der Tiefe der Baugrube begegnen wir allen Assoziationen des Unterirdischen, vom der Gruft über das Verlies bis zum schaurigen Keller, vom Hades bis zum Höllenreich. Unter der Erde liegt, zumindest für die kindliche Seele (und das, was von ihr im Erwachsenen fortlebt), ein imaginärer Raum des Dunklen, der sich mit Projektionen der Angstlust füllt. Nicht ohne Grund spielen die meisten Horrorfilme ebenso wie Videospiele im Untergrund, in jenen Kellergeschossen, wo Vampire, Dämonen, Folterknechte, Teufel, Ahnen und Klopfgeister aller Kulturen nichts als zuhause sind.

Wo Mutter Erde sich auftut, fürchtet man, von ihr verschlungen zu werden – wer hätte Ähnliches noch nicht geträumt? Vor allem tiefe Baugruben, wie die von U-Bahn-Stationen, kann man zwar vernünftig betrachten, untergründig jedoch nur als Abgrund erfühlen. Von unten her wird dem Beschauer somit einiges an Affektabwehr abgefordert. Diese emotionale Distanzierung wird szenisch im Bauzaun, der dinglichen Differenzlinie zwischen Bühne und Zuschauerraum. Der Zaun sichert nicht nur die körperliche Integrität. Sein Gitter rahmt auch jene Szenerien, in denen der Kranführer zum zauberkräftig fernwirkenden Helden, der Bagger zum phallisch durchdringenden Berserker mutiert. In der Spielwarenindustrie zählen Baufahrzeuge und –werkzeuge zu den Klassikern der Beliebtheit. Ihr Potential, dem Jungen durch Materialdurchdringung und Erdbewegung das Gefühl zu geben, weltbewegend zu wirken, macht sie zum Kultgerät schlechthin für die Initiation zur Männlichkeit. Baustellen sind gewaltig und gewalttätig gegenüber Materie und Natur. Das weckt jenen erotischen Schautrieb, der sich schon in der Kindheit daran entzündet, sehen zu wollen, was „darunter“ ist. Die Erde will durchbohrt sein. Unter ihrer dünnen Kruste west das Unterbewusste dichter als anderswo.

Erde ist staubförmige Vergangenheit, gespeist aus Abrieb von Steinen und Resten abgestorbenen Lebens. Tote Biomasse, der unsichtbar Keim und Nahrung zu neuem Austreiben und Erblühen innewohnen. Der Mensch begegnet auf der Baustelle jenem Staub, der er ist und dereinst werden wird. Grabung rührt an Gräber – wo sie dies nicht nur imaginär, sondern real tut, treten die Archäologen auf den Plan und stören den Zeitplan. Beim Aushub für den Wiener Zentralbahnhof wurde ein Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg ausgegraben und sogleich ins nahe Heeresgeschichtliche Museum übersiedelt. Die Leichen im Keller der Gesellschaft kommen ans Licht und mancherlei Bomben haben ihre Sprengkraft bis heute bewahrt. Das Unterirdische ist ein Speicher des objektiven Gedächtnisses. Für Archäologen ist es wie ein Stück alter Text, der zu entziffern ist, weil er Geschichte erzählt. Unsere Vorgeschichte, die unser Fundament bildet, unsere Wurzel und unser Archiv.

Das Erhabene und die Kunst

Die Baustelle ist ein ästhetisches Ereignis, wenn sie als solche betrachtet wird. Es ist jedoch nicht die Ästhetik des Schönen, die zum Verweilen des Blicks und zur Kontemplation verführt. Im Gegenteil: ihre sprichwörtliche Hässlichkeit, ihre unverschämte Durchbrechung des (wenn auch nur vom Bemühen her) durchkosmetisierten Stadt- oder Landschaftsbilds, ihr vollständiger Mangel an Fassadenhaftigkeit und Adressiertheit an ein ästhetisch ambitioniertes Auge ist der Skandal, aus dem sich die visuelle Faszinationskraft speist. Die Baustelle ist der Ästhetik des Hässlichen zuzuordnen. An ihrer reinen Funktionalität, die uns Einblick gibt in die gesichtslosen Eingeweide der Konstruktion unserer Welt, erfahren wir, wie stark alles Andere ästhetisierend überformt ist und wie sehr unser Sehen heilender Verhüllungen des Seins bedarf. Sie führt uns die Fassadenbedürftigkeit des Menschengeschlechts vor Augen.

Das Rohe, das Brutale und das Chaos erhalten dank Baustelle in der dichtest zivilisierten Menschheitszone Stadt ihren kontrastierenden Ort der Szenifikation – eine Stelle des Ungestellten, die erst im Auge des zur Kontemplation aufgelegten Beschauers sich zum Schaubild zusammen stellt. Die Fähigkeit zur Synthesis des Wahrgenommenen wird von der Größe, Vielgestaltigkeit und Unordnung der Baustelle herausgefordert, wenn nicht überfordert. In der Theorie der Ästhetik firmiert der Reiz solch überbordender Phänomene unter dem Begriff des Erhabenen. Dieser bezeichnet – mit den Worten Friedrich Schillers – „ein gemischtes Gefühl, eine Zusammensetzung von Wehsein und Frohsein“. Erweckt wird es durch „alles Große, Kraftvolle, Mächtige, sofern wir uns ihm gegenüber klein dünken“ (Eisler). Die Komponente der Unlust resultiert dabei aus der “Unangemessenheit unseres Vermögens der Größenschätzung“, während wir angenehm empfinden, dass die „furchterregende Großheit“ und Macht über uns keine Gewalt hat, sofern uns der Bauzaun die Distanz sichert, die das ästhetische Wohlgefallen benötigt, um Erschreckendes zu genießen. Denn erhaben ist, wie der Philosoph Burke formulierte, „was die Vorstellung von Schmerz und Gefahr für uns zu erwecken vermag und auf irgend eine Weise schrecklich erscheint“.

Das Schöne, schrieb Immanuel Kant, „betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit an ihm, oder durch dessen Veranlassung, vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird«. Klarer lässt sich die Ästhetik der Baustelle in einem Satz nicht zusammen fassen.

Der Mangel an Form und Schönheit, das ambivalente Gefühl angesichts des unüberblickbar Gewaltigen einer Großbaustelle und die Schwierigkeit, sich ein klares Bild von ihr zu machen, provozieren eine Fülle kompensatorischer Versuche zur Verschönerung. Wovon man sich (wie von Gott) kein Bild machen kann, davon und dafür muss man Bilder machen. Hobbyfotografen können der Versuchung kaum widerstehen, an der unregelmäßigen Regelmäßigkeit aufgehäufter Stahlgitter und Betonrohre alte künstlerische Erfindungen wie Abstraktion und Verfremdung nachzuvollziehen. Sie wollen dem Unschönen durchs Wählen eines Ausschnitts Schönheit abzwingen, um sich als kreative Individualisten zu gerieren. Ebenso beliebt ist das Sujet „nackte Frau auf der Baustelle“, mit welchem etwa die Fotografin Susanne Hölzel „die weibliche Verletzlichkeit zum Ausdruck bringen“ will, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete – wenn auch nicht im Feuilleton, sondern wegen des Skandals, den die Ausstellung in einer Bayerischen Kleinstadt provoziert hatte.

Die Ambivalenz gegenüber dem Anblick macht sich am Bauzaun fest. Er schützt vor der Hässlichkeit und wird gern mit Bildern „geschmückt“. Behinderten-Kunst, Kindergarten-Malerei und Graffiti erfreuen sich großer Beliebtheit, wenn auch nur Seitens der Veranstalter und Ausführenden. Auch Künstler engagieren sich oder werden für „Kunst am Bauzaun“ engagiert, im großen Stil etwa 2005 in der „Hafencity Hamburg“. Der Erfolg ließ sich nur danach bemessen, wie rasch die Bilder geklaut waren. Meisterwerke der Baustellen-Kunst sind selten. Heimo Zobernigs Staubnetz, das nur das Logo des Sponsors Generali abbildete, schrieb Kunstgeschichte. Sehr gelungen ist die Schriftlösung von Richard Hoeck mit Guckloch und der Aufschrift „you can´t stop looking at this“ (Innsbruck 2009). Mein persönliches Lieblings-Bauzaun-Kunstwerk stammt von Stephanie Hartung, es erinnert mich an Lucio Fontana. In die Abdeckfolie des Zauns hat die Künstlerin Löcher geschnitten. Durch sie fällt auf ultimativ künstlerische Weise der Blick auf das geordnetste Chaos der Welt.